Sozialstaat Schweiz: «Für die Schwachen gilt kein Notrecht»

Nr. 14 –

Nach der CS-Rettung fragen sich viele, ob auch sie vom Staat so grosszügig gerettet würden, falls sie selbstverschuldet in Not gerieten. Eine sozialpolitische Standortbestimmung mit SP-Kopräsidentin Mattea Meyer.

Portraitfoto von Mattea Meyer
«Die Logik der Rechten ist: Die Leute sind selber schuld, und überhaupt, uns fehlt das Geld»: Mattea Meyer.

WOZ: Vor zwei Wochen hat der Bundesrat per Notrecht die Credit Suisse gerettet und dafür gemeinsam mit der Nationalbank 259 Milliarden Franken gesprochen. Für soziale Sicherheit gibt die Schweiz pro Jahr rund 200 Milliarden Franken aus. Was geht Ihnen angesichts dieser Grössenverhältnisse durch den Kopf, Mattea Meyer?

Mattea Meyer: Unbestritten ist, dass die CS gerettet werden musste. Die volkswirtschaftlichen und sozialpolitischen Folgen wären sonst verheerend gewesen. Nur: Die gleichen politischen Kräfte, die über Nacht diese unvorstellbare Summe lockermachen, verweigern den vollen Teuerungsausgleich bei den AHV-Renten, bezahlbare Kitaplätze oder mehr Prämienentlastung. Die Banken sind zu gross, um sie bankrottgehen zu lassen. Aber die Menschen können getrost alleingelassen werden? Das macht mich hässig. Und ich erhalte auch viele Rückmeldungen aus der Bevölkerung, zum Beispiel von Frauen, die sagen: Ich war alleinerziehend und habe Kinder grossgezogen, deswegen Teilzeit gearbeitet, im Alter muss ich nun mit 3200 Franken im Monat auskommen, ich bin denen egal. Sehr viele Frauen sind wütend, sie werden ihre Antwort beim Frauenstreik am 14. Juni geben.

Das Parlament hat soeben die Reform der beruflichen Vorsorge verabschiedet. Ihr Fazit?

Ein Desaster. Der Bundesrat hatte mit der Pensionskassenreform ursprünglich richtige Ziele formuliert: Finanzierung der zweiten Säule sichern, Rentenniveau halten und Renten für tiefe Einkommen verbessern. Letzteres betrifft vor allem auch Frauen. Ausser dem ersten Ziel wurden alle verfehlt. Die Hälfte der Übergangsgeneration erhält tiefere Renten, weil die beschlossene Senkung des Umwandlungssatzes nicht genügend kompensiert wird. Und alle, die jünger sind, erhalten gar keine Kompensationen.

Was bedeutet das konkret?

Nehmen wir eine fünfzigjährige, obligatorisch versicherte Pflegehelferin, die 4500 brutto verdient. Sie bezahlt mit dieser Reform monatlich rund 150 Franken mehr Lohnbeiträge für 8 Franken weniger Rente, ihr ohnehin bescheidener Lohn sinkt also faktisch. Die Bürgerlichen verschliessen die Augen vor den sozialen Realitäten, sie haben einfach einen technokratischen Ansatz gewählt. Das ist doch keine Politik!

Vor der Abstimmung übers Rentenalter 65 für die Frauen hatten die Bürgerlichen versprochen, das Problem der zu tiefen Frauenrenten bei der BVG-Reform anzugehen.

Das war ein fadenscheiniges Versprechen. Der Wortbruch war kalkuliert, um die Rentenaltererhöhung mit allen Mitteln durchzuboxen. Die grosse Mehrheit der Frauen durchschaute das billige Manöver und lehnte die Vorlage ab.

Die bürgerliche Mehrheit verlangt von den Versicherten Opfer. Die gesetzlich garantierten Gewinne der Finanzindustrie aus den Pensionskassenanlagen – die «Legal Quote» – hingegen hat sie nicht angetastet. Was hat die SP dagegen unternommen?

Lassen Sie mich kurz ausholen. Das Pensionskassensystem hat ein dreifaches Problem: erstens ein Kaufkraftproblem, weil die Renten seit Jahren sinken; zweitens ein Gleichstellungsproblem, denn jede dritte Frau ist gar nicht versichert. Diese beiden Probleme lösen wir am wirkungsvollsten über die solidarisch finanzierte AHV, zum Beispiel mit einer 13. AHV-Rente.

Und drittens?

Drittens gibt es ein Abzockerproblem: Während die Versicherten verlieren, machen Banken und Versicherungen ein lukratives Geschäft. Wir wollten deshalb – übrigens nicht zum ersten Mal – diese Gewinnabschöpfung senken. Ausserdem beantragten wir eine Senkung der Vermögensverwaltungskosten und mehr Transparenz im höchst undurchsichtigen Pensionskassensystem. Damit bliebe mehr Geld auf den Konten der Versicherten. Die Bürgerlichen haben alle in diese Richtung zielenden Anträge abgelehnt und eine Debatte darüber verweigert. Warum? Weil sie in den Verwaltungsräten von Banken und Versicherungen sitzen und von der Selbstbedienungsmentalität der Finanzindustrie mitprofitieren.

Hochbezahlte Lobbyist:innen im Parlament sind ein demokratiepolitisches Problem. Weshalb begegnet die SP diesem Missstand nicht mit einer Initiative?

Das ist tatsächlich ein riesiges Problem. Dank unserer Transparenzinitiative müssen die Parteien zwar neuerdings ihre Einnahmen offenlegen, das ist ein Erfolg. Doch die effektivsten Lobbyist:innen sind die Parlamentarier:innen selber. Wir haben mehrfach zu erreichen versucht, dass sie ihre Einkünfte offenlegen müssen. Ein Beispiel, wie sich das auswirkt: In der Gesundheitskommission war eine Vorlage, durch die der Marktanteil von Generikamedikamenten erhöht und gleichzeitig die überhöhten Preise gesenkt werden sollten, auf gutem Weg. Damit hätten sich Hunderte Millionen Franken einsparen lassen. Und dann passierte es: SVP-Nationalrat Thomas de Courten legte sich für eine «Lösung» ins Zeug, die das verhindert. De Courten ist Verbandspräsident von Intergenerika Schweiz. Er hatte natürlich kein Interesse an tieferen Preisen. Es gibt reihenweise ähnliche Beispiele.

Warum also keine Initiative?

Wir versuchen es zurzeit auf parlamentarischem Weg. Es gibt Vorstösse, die auch von bürgerlicher Seite unterstützt werden. Einer will verbieten, dass Vertreter:innen von Krankenkassen in der Gesundheitskommission Einsitz nehmen dürfen. Wie wichtig solche Beschränkungen wären, zeigt ein weiteres Beispiel: An der «Too big to fail»-Gesetzgebung haben Bankenlobbyist:innen mitgewirkt. Klar schreiben sie keine Boniverbote ins Gesetz. Auch der Einfluss der Verbände ist gross. Bei der Pensionskassenreform hatte am Anfang der Sozialpartnerkompromiss eine Mehrheit in der Sozialkommission. Dann kippte sie. Wer hatte die Finger im Spiel? Die Versicherungsverbände.

Gewerkschaften, SP und Grüne haben das Referendum gegen die BVG-Vorlage ergriffen. Scheitert die Vorlage an der Urne?

Nicht nur die Linke sagt, dass diese Vorlage zu teuer ist. Das sagen auch der Gewerbeverband, der Bauernverband, Gastrosuisse – alles keine linken Vereinigungen. Aber sie haben nachgerechnet, was die Reform für ihre Branche und ihre Betriebe bedeuten würde. Auch in den bürgerlichen Fraktionen zeigen sich Risse. Magdalena Martullo-Blocher oder SVP-Programmchefin Esther Friedli haben im Parlament gegen die Vorlage gestimmt.

Nicht bloss die Altersrenten sind im Fokus. Seit der Rettung der UBS 2008 stehen alle Sozialwerke unter Druck, besonders die Invalidenversicherung. Die Sozialhilfesätze sinken. Halten die sozialen Sicherungen diesem Druck stand?

Grundsätzlich haben wir stabile und gute Sozialwerke. Unser Land überlässt zumindest im Grundsatz die Menschen nicht einfach ihrem Schicksal. Das wäre eine gute Ausgangslage. Doch gleichzeitig erleben wir von den Rechten seit Jahren permanente Angriffe auf diese sozialen Errungenschaften. Ihre Logik: Die Leute sind selber schuld, und überhaupt, uns fehlt das Geld.

In Kürze wird das Abbaupaket, das der Bundesrat nach dem CS-Desaster vorgeschlagen hat, ins Parlament kommen. Zunächst plante Karin Keller-Sutter sogar einen Griff in die AHV-Finanzen, aber das traute sich der Bundesrat angesichts der aktuellen Ereignisse dann nicht. Doch ich befürchte, das Anliegen ist nicht vom Tisch, sondern erstmal nur verschoben. Derzeit zeigt es sich bei der CS-Rettung, ähnlich wars aber auch schon bei Corona: Die Politik kann ungemein schnell reagieren, wenn sie will. Und im Interesse der Konzerne enorme Mittel freisetzen. Ich frage allerdings: Wann sind zum Beispiel die Pflegenden an der Reihe, denen man während der Coronakrise applaudiert und höhere Löhne in Aussicht gestellt hat? Wann wird ihnen rasch und unkompliziert geholfen?

Sie haben die Stabilität der Sozialwerke betont. Daher zum Schluss noch eine Zahl: In der Schweiz leben über 700 000 Menschen in Armut, davon sind 120 000 Kinder, über 1,2 Millionen Menschen sind armutsgefährdet.

Das ist ein Armutszeugnis für unser reiches Land und macht mir Sorgen. Ich bin selber Mutter von zwei kleinen Kindern. Was bedeutet Armut? Wenn eine Mutter ihren Kindern ständig sagen muss: Nein, wir haben kein Geld für den Badi-Eintritt, da können nur die anderen hin. Sie sind von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen. Was heisst das für ihre Zukunft? Eine Richtschnur für unser Handeln als Staat, als Politiker:innen und als Bürger:innen sollte unsere Bundesverfassung sein, nach der sich die Stärke des Volkes am Wohl der Schwachen misst. Doch für sie gilt kein Notrecht.