Gegengemeinschaften: «Im Untergrund ist es interessanter als am Licht»
Ethischer, schöner, cooler: Wer eine Umwälzung der Ordnung anstrebt, muss auf die Benachteiligten hören, sagt Philosoph Daniel Loick. Ein Gespräch über revolutionäre Alltagspraktiken und lebensnotwendige Infrastrukturen.

WOZ: Daniel Loick, der Held Ihres neuen Buchs ist der Maulwurf. Was kann er, was andere Tiere nicht können?
Daniel Loick: Weil er im Untergrund lebt, wird der Maulwurf oft verkannt. Dabei ist er eigentlich ein revolutionäres Tier: Er wühlt beharrlich, untergräbt starre Strukturen, macht den Boden lockerer, bringt ihn vielleicht sogar zum Beben. Er stellt Durchbrüche, Aufwürfe und labyrinthartige Verbindungen her. Vielleicht ist es im Untergrund also gar nicht so ungemütlich, wie viele meinen, sondern sogar interessanter als am Licht.
Bei Marx bereitet der Maulwurf den Boden für die Revolution. Bei Ihnen wird er zum Symbol für die Unterdrückten, die – so Ihre Hauptthese – den Herrschenden gerade deshalb überlegen seien, weil sie im Dunkeln lebten.
Ich will auf keinen Fall sagen, dass aus der Unterdrückung automatisch ein Vorteil erwächst, denn oft führt sie zu totaler Vereinsamung, Isolation oder Traumatisierung. Auch ist die Unterdrückung zuweilen so eingespielt, dass sie selbst von den Unterdrückten als gerechtfertigt wahrgenommen wird. Zum Vorteil wird eine Unterdrückungserfahrung deshalb nur, wenn sie auf eine bestimmte Weise eingeordnet wird – und dafür braucht es eine bestimmte Wahrnehmung, die nur kollektiv erzeugt werden kann. Überlegen sind daher nicht alle Unterdrückten, sondern nur jene, die sich zu Gegengemeinschaften zusammenschliessen.
Emanzipation im Fokus
Daniel Loick (47) ist Associate Professor für Politische und Sozialphilosophie an der Universität Amsterdam. Zu den Schwerpunkten des deutschen Wissenschaftlers gehören die kritische Theorie des Rechts und der Staatsgewalt sowie Strukturen sozialer Gemeinschaften. Loick ist Autor mehrerer Bücher und hat 2022 gemeinsam mit der Soziologin Vanessa E. Thompson den Reader «Abolitionismus» herausgegeben. In seinem neusten Buch, «Die Überlegenheit der Unterlegenen», entwirft er eine «Theorie der Gegengemeinschaften». Loick lebt in Amsterdam und Frankfurt.

Worin sind solche Gegengemeinschaften den Herrschenden denn überlegen?
Zum Beispiel im Wissen: Viele gesellschaftlich unterdrückte Gruppen haben durch persönliche Erfahrungen Zugang zu einem Wissen, das Mitgliedern dominanter Gruppen verwehrt bleibt – ich würde sogar von einer Wissensblockade sprechen. Nehmen wir die #MeToo-Bewegung: Viele Männer waren vom Ausmass sexistischer Gewalt überrascht. Doch für viele Frauen, vor allem feministische, war das überhaupt nicht überraschend, weil sie durch eigene Erfahrungen und eine bestimmte Interpretation davon bereits Wissen haben, das anderen nicht zugänglich ist.
Welche Vorteile haben Unterdrückte neben ihrem Wissen noch?
Sie haben einen ethischen Vorteil. Wer von einem Herrschaftsverhältnis profitiert oder aktiv Herrschaft ausübt, entwickelt eine bestimmte Kälte oder Indifferenz gegenüber dem Leid anderer. Diese Gefühlslage ermöglicht das Ausbeuten erst. Und er entwickelt eine normative Vorstellung davon, dass die Ausbeutung gerechtfertigt ist. In Frankfurt, wo ich wohne, sitzen in den Luxusrestaurants lauter Leute, die sich vermutlich noch nie gefragt haben, ob ihnen das zusteht, was sie da geniessen. Sie glauben, sie hätten ihren Reichtum erarbeitet. Wer auf der Strasse lebt, habe es hingegen nicht anders verdient. Diese Ignoranz – eine ethische Blockade – muss sich erst herausbilden. Wer auf der anderen Seite steht, jener der Unterdrückten, muss diese Ideologie nicht unbedingt entwickeln – und hat stattdessen das Potenzial, solidarische Strukturen aufzubauen. Die feministische Philosophie argumentiert beispielsweise schon lange, dass Menschen, die sich um reproduktive Arbeit kümmern müssen – meist Frauen oder migrantische Personen –, eine Care-Ethik entwickeln: eine Moral, die sich eher an den Bedürfnissen anderer orientiert als die Kälte einer Leistungsideologie.
Eine geteilte Erfahrung führt aber noch nicht zwingend dazu, dass sich etwas an der Unterdrückung ändert. Was braucht es, damit eine Gegengemeinschaft emanzipatorisch wird?
Ich glaube nicht, dass es ein Patentrezept gibt, eben weil aus der Unterdrückung allein noch keine Gegengemeinschaft erwächst. Erfährt eine Frau Sexismus, empfindet sie das entweder als empörend – oder denkt, es sei halt normal. Nichts an ihrer Identität an sich lenkt ihr Bewusstsein in eine bestimmte Richtung, Emanzipation ist immer das Resultat von Kämpfen. Im Feminismus der sechziger Jahre war eine klassische Praxis das «Consciousness Raising»: Frauen setzen sich zusammen, reden über persönliche Erfahrungen – von der Menstruation über Sex bis zur Arbeitswelt – und merken, dass andere die gleichen Erfahrungen machen wie sie selbst. So kann sich aus gleichen Erfahrungen ein politisches Bewusstsein entwickeln.
Und wie können die persönliche Unterdrückungserfahrung und eine solche Gegengemeinschaft zusammenfinden?
Man kann sich das Zusammenfinden jedenfalls nicht einfach herzaubern. Ist man der einzige Punk auf dem Land – ohne Zugang zur dazugehörigen Infrastruktur, Subkultur oder Szene –, kann die Gegenvergemeinschaftung scheitern. Das hat oftmals tragische Konsequenzen wie totale Vereinsamung oder Absorbierung durch die Mehrheitsgesellschaft. Aber es kann auch anders laufen: In einer linken Biografie gibt es immer zentrale Momente, in denen man den entscheidenden Anschluss findet, auf das eine richtige Konzert geht, an die eine richtige Demo. Politisch die gleichen Interessen zu haben, reicht aber natürlich nicht; wichtig ist, dass sich so etwas wie Freundschaft herausbildet. Soziale Bezüge geben Halt, dadurch entsteht auch eine Community, auf deren Ressourcen man zurückgreifen kann. Das ist ein kollektiver Prozess, der aus vielen kleinen Alltagspraktiken besteht: gemeinsamem Kochen, Organisieren, Feiern.
Ist ein Punk denn automatisch Antifaschist? Oder anders gefragt: Wie können individuelle Unterdrückungserfahrungen in einen universellen politischen Anspruch umformuliert werden?
Die Frage, wie aus einer Flinta-Person eine Feministin, aus einem Arbeiter ein Proletarier wird, nenne ich das «Rätsel der politischen Subjektivierung». Laut Marx geschieht das über die Erfahrung von Arbeit: Kommen Arbeiter:innen zusammen, sehen sie, dass sie die gleichen Interessen haben, politisieren sich und fangen an zu kämpfen. Dass das so einfach funktioniert, glaubt heute fast niemand mehr – auch weil nicht alle Unterdrückungserfahrungen mit Lohnarbeit zusammenhängen. Ich denke vielmehr, wir müssen auf die Umkämpftheit von sozialen Positionen schauen: Die Mitglieder unterdrückter Gruppen werden viel häufiger in ihrem sozialen Status, ihrer Identität herausgefordert. Sie haben daher grössere Fähigkeiten im Umgang mit Widersprüchen. Genau hier liegt der universelle politische Anspruch: Es ist die Weigerung, Herrschaft als natürlich zu akzeptieren.
Macht es nicht auch einen Unterschied, ob man sich einfach für ein alternatives Lebensmodell entscheidet, die marginalisierte Position also selbstgewählt ist – oder ob wir von der strukturellen Unterdrückung einer Schwarzen oder proletarischen Person sprechen?
Manche Gegengemeinschaften sind ein Resultat von Entscheidungen, andere werden traditionell weitergegeben. In einer Kommune etwa wollen Leute mit unterschiedlichen Motivationen gemeinsam ein anderes Leben führen. In einer Schwarzen Community in den USA wiederum ist man häufig einfach Teil einer bestimmten Nachbarschafts- oder Verwandtschaftsstruktur, weil man dort aufgewachsen ist. Solche Strukturen von langer geschichtlicher Dauer haben den Vorteil, eine Form von Archiv zu haben: Wissen, ein ästhetisches Repertoire, Rituale – auf all das können die Mitglieder zugreifen.
Geht es bei einer Gegengemeinschaft also auch um Ästhetik?
Ja, das ist eine sehr wichtige Dimension! James Baldwin hat einmal gesagt: «Wir hatten den Schnaps, wir hatten das Hühnchen, die Musik und einander.» Oft beschreiben Gegengemeinschaften ihre Praktiken selbst als nicht unbedingt wahr oder gut, sondern als schön: Es geht um Ausdruckskraft, Intensität, Coolness. Queere Gegenkultur etwa ist nicht nur eine andere Kultur, sondern eine ästhetisch gesehen bessere, schönere Weise, Musik zu hören, zu tanzen oder zu lieben, als die spiessige Kultur der Heteros. Und die Jazzclubs oder Schwarzen Kirchen in Harlem sind besser als die prächtigen Opernhäuser, in die die weissen Leute gehen. Auch der ästhetische Vorteil von Gegengemeinschaften kommt daher, dass ihre Mitglieder in ihren Praktiken häufig Erfahrungen von Kampf oder Konfliktualität umsetzen. Schon das Einrichten eines Raums, einer Wohnung, wofür häufig Schwarze Frauen zuständig waren, sei etwas Politisches, sagt bell hooks: ein Kampf, wenn man unter Bedingungen lebt, in denen das eigene Überleben immer auch eine Herausforderung ist. Die bürgerliche Harmonievorstellung hingegen, in der keine Spur mehr ist von Konflikt, Überschreitung oder Sehnsucht, ist weniger schön und intensiv.
Man hat dann zwar schöne Räume, aber die Architektur ist immer noch die gleiche. Läuft man also nicht Gefahr, die Unterdrückung zu romantisieren, zu vergessen, dass die Verhältnisse geändert werden müssten?
Die Romantisierung ist für mein Projekt natürlich eine ständige Gefahr – und es ist auch eine Kritik, zu der ich einlade, gerade wenn ich als weisser Typ von der Überlegenheit der Unterlegenen spreche. Ich versuche, das so stark wie möglich zu vermeiden, auch wenn es mir sicher nicht immer gelungen ist. Man darf die Überlegenheit nicht so verstehen, dass sie sich gut anfühlt, dass man etwa arm sein soll, um glücklich zu sein. Die Überlegenheit besteht vielmehr in der Entwicklung einer Fähigkeit zum Kampf. Schönheit, Wahrheit und Moral entstehen erst durch eine kämpferische Distanz zur Gesellschaft. Es gibt ja diesen Satz von Georg Büchner, «Friede den Hütten, Krieg den Palästen». Man darf ihn nicht so lesen, dass die Hütten Hütten bleiben sollen, in denen man sich friedlich einrichtet. Das Wichtigste an dem Satz ist der «Krieg»: Die Herrschaftsrelation muss als Relation aufgehoben werden.
Welche Gegengemeinschaft inspiriert Sie persönlich, welche würden Sie als erfolgreich beschreiben?
Refugees oder migrantische Menschen werden auf der einen Seite unterdrückt, ihre Communitys haben aber auch ein bestimmtes Wissen, bestimmte Moralvorstellungen und Ästhetiken, mit denen sie der Mehrheit überlegen sind. Der Kulturwissenschaftler Paul Gilroy sagt, migrantische Communitys in europäischen Metropolen – er benutzt das Beispiel London, aber es trifft auch auf Frankfurt oder Zürich zu – hätten schon immer gewusst, dass Homogenität kein Wert an sich ist, Zugehörigkeit nicht über ein Territorium laufen muss, Solidarität nicht über Volksgemeinschaft. Gilroy nennt das «Konvivialität»: ein Zusammenleben hybrider Identitäten, Lebensweisen und Perspektiven, das von Reibungen und Konflikten geprägt ist, die aber durch Dialog oder auch Humor abgefedert werden können. Sind Migrant:innen als Gegengemeinschaft erfolgreich? Keine Ahnung. Unterdrückt sind sie noch immer – aber sie deuten auch etwas an, hinter das man nicht mehr zurückkann. Laufe ich durch Frankfurt und denke an die Fantasien der AfD von einem weissen Deutschland, ist diese Vorstellung nicht nur rassistisch oder falsch, sondern auch anachronistisch, albern und veraltet.
Dennoch ist die AfD derzeit zweitstärkste Kraft in Deutschland, in Frankreich könnte das Rassemblement National die Wahl vom kommenden Sonntag gewinnen. Was können Gegengemeinschaften in einer Zeit des Rechtsrucks ausrichten?
Vor allem: ganz unmittelbar das Überleben sichern. In den USA etwa sind nach der Abschaffung des Rechts auf Abtreibung informelle Strukturen entstanden, die es Schwangeren ermöglichen, in einen anderen Bundesstaat zu gehen, illegal abzutreiben oder Medikamente zu besorgen. Der gewaltige Einschnitt im Leben von Flinta-Personen, besonders Schwarzen Frauen, kann derzeit nicht einfach durch parlamentarische Politik bekämpft werden oder indem man die Demokrat:innen wählt – es braucht also dringend gegengemeinschaftliche Infrastrukturen. Umso mehr, je schlimmer die Rechtsentwicklung ist. Es geht ja auch um die Überlieferung von Wissen, um Bildungsarbeit, die Aufrechterhaltung von Kulturräumen.
In Frankreich rufen derzeit selbst die Autonomen zur Verteidigung der liberalen Demokratie auf.
Ich bin nicht dagegen, dass man wählen geht oder für Reformen eintritt, will das auch gar nicht gegeneinander ausspielen. Aber ich glaube schon, dass wir im Moment eine so tiefgreifende Krise unserer politischen Institutionen erleben, dass wir auf keinen Fall die Fantasie haben dürfen, das Problem sei durch eine Art Restauration des früheren Status quo gelöst. Dass man also einfach die liberale Demokratie verteidigt und denkt, die Gefahr sei damit abgewendet. Statt um Restauration muss es um eine Neuerfindung der politischen Institutionen von unten gehen. Dafür können die Perspektiven von Gegengemeinschaften leitend sein.
Ist das eine Aufforderung zur Militanz?
Ja, aber Militanz nicht unbedingt im Sinne von Molotowcocktails, sondern von Radikalität und militanter Fürsorge. Stehen wir wirklich vor der Gefahr des Faschismus, ist er ja nicht vom Himmel gefallen: Wer vom Kapitalismus nicht reden will, soll auch vom Faschismus schweigen, um es mit Max Horkheimer zu sagen. Und wenn das richtig ist – was ich glaube –, kann die Lösung nicht in der Verteidigung der Normalität liegen, sondern dann müssen wir die Normalität grundlegend verändern. Die Frage ist dann, woran wir uns dabei orientieren sollen. Ich finde: nicht am dominanten Standpunkt jener, die Unterdrückte einfach integrieren wollen, sondern am Standpunkt derjenigen, die aus dem jetzigen System sowieso schon ausgeschlossen sind. Die haben schon unter faschismusähnlichen Bedingungen Skills und Techniken entwickelt: Es gibt Communitys, die sowieso damit rechnen müssen, dass sie nachts verhaftet, schikaniert oder angegriffen werden, es Anschläge auf Leib und Leben gibt. Von diesen solidarischen Gemeinschaften können wir jetzt lernen.
Kann Ihre Theorie damit auch über die Gegengemeinschaften selbst hinausweisen, auf eine Umwälzung der Ordnung hin?
Ich habe kein Rezept für die Revolution. Aber die Hoffnung auf ein Zusammenleben nach dem Kapitalismus speist sich aus den Erfahrungen unterdrückter Gruppen. Konkret bedeutet das: Dort, wo es keine Gemeinschaften gibt, muss man sie aufbauen. Und dort, wo es welche gibt, muss man dafür sorgen, dass sie Gegengemeinschaften sind, also andere Sozialformationen als die bürgerlichen: andere Formen der Versorgung und des Wirtschaftens als solche, die auf dem Leistungs- und Konkurrenzmodell aufgebaut sind; andere Formen von Verwandtschaft als jene, die auf Familie basieren; andere Formen von Beziehung und Intimität als solche, die auf einem heterosexuellen Zweiermodell beruhen; andere Formen von politischer Selbstregierung als solche, die auf weisser Dominanz aufgebaut sind.
Rechte bekämpfen Gegengemeinschaften, der Kapitalismus vereinnahmt sie. Was kann man tun, damit das nicht passiert?
Es gibt unterschiedliche Formen von Vereinnahmung: Bei der queeren Kultur ist sie meist popkulturell, bei der Politik parlamentarisch. Dann wiederum gibt es eine NGOisierung von Gegengemeinschaften – wenn man beim Aufbau solidarischer Strukturen plötzlich nicht mehr Aktivist:in ist, sondern nur noch Förderanträge stellt und Sozialarbeit macht. Die dadurch entstehenden Paradoxien und Dilemmata lassen sich, glaube ich, nicht so recht auflösen – man kann sich nicht von vornherein gegen den Verlust des emanzipatorischen Charakters schützen. Es ist immer eine Aushandlung, ein Ringen darum, dass die Perspektive der Befreiung immer unter der Massgabe passiert, dass sich die Institutionen nach den Ausgeschlossenen richten müssen und nicht umgekehrt.
In der Schweiz wird gerade der dritte Geschlechtseintrag diskutiert. Kann Einschluss ins System nicht auch ein Mittel auf dem Weg zur Emanzipation sein?
Ich will nicht jemand sein, der jeden realen Fortschritt ablehnt. So etwas wie die Ehe für alle verbessert die Lebenssituation von Leuten ja ganz konkret. Aber gleichzeitig finde ich eine Warnung vor einer zu stark reformistischen Orientierung angebracht. Klar ist es ein Vorteil, dass es einen dritten Geschlechtseintrag gibt – aber es bedeutet ja trotzdem, dass ich mich auf ein Geschlecht festlegen muss. Warum also überhaupt ein solcher Eintrag? Ob man sich auf einen bestimmten reformistischen Kampf einlässt, ist für mich letztlich vor allem eine strategische Frage, die man immer wieder neu ausloten muss.
Am Schluss Ihres Buchs schreiben Sie, Gegengemeinschaften seien nicht nur etwas für die Theorie, sondern auch fürs Leben. Teil welcher Gegengemeinschaften sind Sie persönlich?
Da sind zum Beispiel meine Familie, meine Freund:innen, meine Beziehung – «normale» Gemeinschaften also. Zudem hätte ich meine Theorie wohl nicht entwickeln können ohne das Hausprojekt, in dem ich wohne. Aber taugt eine andere Wohnform bereits als Gegengemeinschaft? Auf der einen Seite haben wir im Haus einen sehr weit reichenden Anspruch: Es geht darum, klassische Familienstrukturen zu ersetzen und verlässliche und solidarische Perspektiven jenseits von Verwandtschaft zu ermöglichen, auch im Alter. Gleichzeitig sind wir ein sehr weisses Projekt und darin nicht so «gegen».
Welche Rolle kommt Ihnen als Wissenschaftler in einer Gegengemeinschaft zu?
Mir ist wichtig, dass theoretische Zugänge immer Reflexionen politischer Praktiken sind. Es geht auf keinen Fall darum, abseits von Bewegungen Theorien zu entwickeln, die diese dann nur noch umsetzen sollen. Das wäre autoritär, und es würde auch Wissensblockaden reproduzieren. Eher will ich gegengemeinschaftliche Archive zusammentragen, zwischen akademischem und aktivistischem Bereich übersetzen, eine Art Scharnierfunktion einnehmen, glaube ich.
«Wenn der Boden zu beben beginnt, werden jene im Vorteil sein, die es gelernt haben zu graben»: Mit diesem Satz endet Ihr Buch. Da wären wir wieder beim Maulwurf.
Es liegt nahe, nach der Lektüre optimistisch zu sein: zu glauben, Gegengemeinschaften würden die Revolution bringen. So meine ich das nicht. Was ich aber weiss: Gegengemeinschaften im Untergrund haben bestimmte Survival Skills, die den Skills jener am Licht überlegen sind. Und wenn es stimmt, dass wir in einem Zeitalter vielfältiger Krisen leben, wenn also der Boden bebt, sehe ich eine Hoffnung in den Erfahrungen jener, die immer schon ausgeschlossen waren, so etwas wie eine neue Form von sozialem Zusammenhalt zu konstituieren. Das letzte Mal, als diese Möglichkeit aufschien, war in der Coronakrise: Wir haben darüber nachgedacht, was «systemrelevant» ist, welche Berufe wichtig sind. Und es gab Versuche, eine solidarische Versorgung jenseits von Staat und Familie sicherzustellen. Das hat leider nicht geklappt – aber vielleicht klappt es ja bei der nächsten Krise.