«Un corps à soi» : Wessen Körper?
In immer neuen Frauenrollen hat sich die Lausannerin Nora Rupp selbst fotografiert. Sie illustrieren die Ansprüche an ein Geschlecht, die frau durchaus zum Durchdrehen bringen können. Oder zum Wunsch, ein Otter zu werden.
Eine Frau zu sein, bedeutet heutzutage, nicht zu wissen, wer man ist. Der weibliche Körper wird so sehr ausgestellt, inszeniert und exotisiert, dass er ein Element wird, das uns fremd ist. Wir wissen nicht, wer wir sind, weil wir ständig in unterschiedliche und widersprüchliche Rollen gedrängt werden.
Titiou Lecoq
Die Angst, nicht zu gefallen, den Erwartungen nicht zu entsprechen, die Unterwerfung unter Fremdurteile und die Gewissheit, nie gut genug zu sein, um die Liebe und Aufmerksamkeit anderer zu verdienen, das alles ist Ausdruck einer psychischen Unsicherheit und Selbstabwertung, die sich auf alle Bereiche des Lebens von Frauen auswirkt – und verstärkt sie zugleich.
Mona Chollet
Wir müssen unsere Vorstellungswelt entkolonialisieren. Das ist ein langer und gewaltsamer Prozess, denn er stellt die Art und Weise infrage, wie wir unser eigenes Sehvergnügen geformt haben. Der weibliche Blick bedeutet für mich, ausserhalb eines Dominanzschemas zu begehren.
Iris Brey
Liebe kann nicht in Beziehungen wurzeln, die auf Zwang beruhen. Liebe kann uns verwandeln und uns die Kraft geben, uns der Herrschaft zu widersetzen. Die Entscheidung für feministische Politik ist eine Entscheidung für die Liebe.
Bell Hooks
Zwanzig Jahre lang, von 2001 bis 2021, hat die Lausanner Fotografin Nora Rupp Fotos von sich selbst inszeniert. Sie begann damit mit zwanzig als Fotostudentin, inspiriert von der US-Künstlerin Cindy Sherman. Lange hielt sie die Arbeit geheim. Erst mit der Zeit habe sie den Sinn dieser Fotos verstanden, sagt sie heute.
«Selbstporträt» trifft nicht ganz zu. Es sind Rollenstudien: die perfekte Hausfrau, die schöne Schwangere, die gepflegte Mutter, die Makellose an der Cocktailparty, die albern-kokette Unterhalterin. Doch die Blicke sagen etwas anderes: Viele dieser Frauen wirken irgendwie neben sich, verrutscht, ferngesteuert. Verloren in der Perfektion, sogar während des Nervenzusammenbruchs noch bemüht, einen guten Eindruck zu machen. «Un corps à soi» heisst die Serie von 41 Bildern. Ein eigener Körper. Wem gehören diese Körper?
Alles an diesen Fotos schreit Weiblichkeit. Aber einige der Frauen kriegen sie nicht mehr ganz hin: Sie haben die Kontrolle verloren, stopfen Fastfood in sich hinein, starren mit irrem Blick in den Bildschirm. Wer sich nicht anstrengt, vermännlicht.
«Weiblichkeit als Tatsache und als Ideologie sind zu disparat und liegen zu weit auseinander, um in irgendeiner ‹weiblichen› Körperlichkeit zusammenzufallen», schrieb die englische Autorin Laurie Penny Anfang der zehner Jahre in ihrem wütenden Buch «Fleischmarkt». Rupps Fotos illustrieren diesen Graben: Weiblichkeit ist nichts Naturgegebenes, sondern harte Arbeit. Etwas, das permanent hergestellt werden muss. «Dass sozial akzeptierte weibliche Identität etwas ist, was gekauft und dem Fleisch künstlich aufgezwungen werden muss, ist für Transfrauen leichter nachvollziehbar als für andere», so Penny. Aber aufzwingen müssen sie sich alle, die beim Weiblichkeitsspiel mitmachen wollen. Auch wenn sie fast nur scheitern können: «Die Frau, wie man sie mir überall präsentierte, war für mich völlig unerreichbar», schreibt die französische Autorin Titiou Lecoq. «Je mehr man sie mir zeigte, desto mehr dachte ich, dass ich persönlich eher ein Otter sein musste.» Ein Tier, das davonschlüpft, sich entzieht: Es ist eins von sechs Zitaten, die Rupp in «Un corps à soi» integriert hat.
Binarität ist ein Gefängnis. Weniger die Binarität der Körper, die sich bis heute nicht vollständig auflösen lässt: Es braucht immer noch ein Spermium und eine Eizelle, um ein Kind zu zeugen. Auch diese Binarität ist nicht absolut, sie franst an den Rändern aus: Intergeschlechtliche Menschen stehen auch körperlich zwischen den Geschlechtern.
Und mit den Gegebenheiten der Körper lässt sich kreativ umgehen, wie trans Personen und viele queere Familien zeigen. Unerbittlich ist hingegen die Binarität der Ideen – die Vorstellung, es gebe zwei Geschlechter mit festen Grenzen und klar definierten Eigenschaften. Immer mehr Menschen verweigern sich dieser Idee, wollen gar nicht mehr Mann oder Frau genannt werden. Doch die Nonbinärdebatte zieht ein Paradox hinter sich her. Sie klingt manchmal, als fühlten sich alle, die sich nicht explizit nonbinär nennen, in der Binarität wohl. Sie droht die Zuschreibungen damit sogar zu verstärken. Aber auch Feministinnen – ob sie das weibliche Pronomen mit Stolz tragen oder knapp aushalten – sind nicht binär. Jede Frau, die sich von den Mechanismen der Frauenverachtung befreien wolle, gefährde ihr soziales Geschlecht, schreibt Penny in «Fleischmarkt». Die Entfremdung gegenüber dem eigenen Körper kennen wohl fast alle Frauen. Die Entfremdung und die Sehnsucht, kein Geschlecht zu haben, weil frau dauernd darauf reduziert wird.
Bevor frau sexy sein musste, vor der Konsumgesellschaft, herrschten andere Ideale: Frauen hatten sich aufzuopfern, das ganze Leben in den Dienst anderer zu stellen – Eltern, Patron, Ehemann, Kinder. Die eigenen Bedürfnisse kamen zuletzt. In Mutterklischees lebt dieses Aufopferungsideal fort, widersprüchlich überlagert von den neuen Idealen der erfolgreichen Berufsfrau, der selbstbewussten, sportlichen Konsumentin. Eins ist den alten und den neuen Idealen gemeinsam: Frau darf sich auf keinen Fall gehen lassen. Die Arbeit hört nie auf.
Wo könnte Befreiung liegen, von hier aus gesehen?
Eine andere Arbeit von Rupp gibt darauf vielleicht eine Antwort. «Cabanes des possibles» ist vor zwei Jahren auf dem Mormont entstanden, jenem Hügel im Kanton Waadt, den Aktivist:innen besetzt hielten, um Lafarge-Holcim am Kalksteinabbau für die klimaschädliche Zementproduktion zu hindern. Die Fotos erhielten den Swiss Press Photo Award, einige erschienen auch in der WOZ.
Auch das sind inszenierte Bilder: Die Aktivist:innen sind vermummt, aber auf eine spielerische Art. Sie tragen Filz und Spitzen, bunte Tücher und Farbe im Gesicht, schauen direkt in die Kamera. Ihr Selbstbewusstsein macht sie schön, die Vermummung ihr Geschlecht teils uneindeutig. Sie «authentisch» zu nennen, wäre eine Falle – Feminist:innen haben Grund, das Wort zu fürchten. Aber sie sind bei sich. Gerade in der Fluidität.
Beide Fotoarbeiten sind auf www.norarupp.com zu finden. Nora Rupp plant, «Un corps à soi» als Buch zu publizieren.