Erwachet!: Dornige Zeiten
Michelle Steinbeck über Skandale in Sanremo

Alle Jahre wieder: Jeweils zum Winterende lanciert der italienische Sender Rai in einem 25-stündigen Fernsehmarathon die Sommerhits der kommenden Saison. Aber das Festival di Sanremo bietet auch eine Momentaufnahme der italienischen Gesellschaft.
Auf den ersten Blick feiert die 73. Ausgabe einen Fortschritt in Richtung Gleichstellung der Geschlechter: Zum ersten Mal bekommen heuer auch die männlich gelesenen Sänger:innen Blumensträusse überreicht. Einzige Ausnahme: der letztjährige Gewinner Blanco. Dieser hatte, statt seine neue Single zu präsentieren, aufgrund technischer Probleme beschlossen, seinem Frust im Livefernsehen freien Lauf zu lassen. Der Zwanzigjährige zerstörte in wenigen Minuten sein komplettes Bühnenbild, bestehend aus Hunderten roten Rosen – und das in Sanremo, der Stadt der Blumen!
Das Publikum zeigte sich entsetzt. Nicht einmal ein reumütiges Entschuldigungsgedicht des Sängers konnte die Gemüter beruhigen, im Gegenteil. Mittlerweile hat die Staatsanwaltschaft bekannt gegeben, dass sie gegen den Randalierer Ermittlungen aufgenommen hat. Wie der «Corriere della Sera» berichtet, sei der Vorfall noch am selben Abend untersucht worden – von der Antiterrorsondereinheit Digos. Zur Anzeige gebracht hat ihn der Konsument:innenverband Codacons. Dieser schreibt, Blancos Aktion habe Steuergelder von Sanremo verschwendet – dafür könnten ihm nun bis zu fünf Jahre Freiheitsstrafe drohen.
Die aggressiv-triumphal anmutende Pressemitteilung geht aber noch weiter: Codacons fordert, dass «die Ermittlungen auch auf die Rai ausgedehnt werden sollten, um festzustellen, ob es eine mögliche Komplizenschaft gab». Eine Staatsaffäre wegen ein paar Blumen?
Die Website von Codacons trägt einiges zur Klärung bei. Der Verband hat es offenbar auf das Festival abgesehen und plante schon vor dessen Ausstrahlung verschiedene mehr oder weniger dubiose Gegenaktionen, in denen unter anderem ein berüchtigter Verschwörungsideologe mitwirken sollte. Angeworben wurden auch explizit junge «Arbeitslose, Studentinnen, Nichtstuer, Gelangweilte», denen neben «einer menschlichen und beruflichen Erfahrung» und dem «Bekämpfen und Anprangern vieler Ungerechtigkeiten» ein Entgelt von 444,30 Euro versprochen wurde. Ausserdem solle der Rapper Fedez «zum Teufel gejagt» werden.
Spätestens hier wird klar, worum es eigentlich geht: Der Präsident und Gründer von Codacons, der Impfgegner Carlo Rienzi, trägt öffentlichkeitswirksam seine persönliche Fehde mit der Rai und Teilnehmer:innen des Festivals aus. Während der Pandemie verklagte er neben einem Virologen auch das Promipaar Fedez und Ferragni, das Geld für den Kampf gegen Covid-19 gesammelt hatte, was wiederum ihm eine Verleumdungsklage einbrachte. Seine Codacons wurde bereits 2017 vom Gesundheitsministerium angezeigt, weil sie Falschmeldungen zu Impfungen verbreitet hatte.
Derweil wird Exministerpräsident und Milliardär Berlusconi einmal mehr freigesprochen. Dieser nutzt die mediale Gelegenheit, um Selenski der Schuld am Krieg gegen die Ukraine zu bezichtigen. Selenski übrigens hätte ursprünglich auch am Sanremo-Festival auftreten sollen. Nach Polemiken, unter anderem befeuert vom langjährigen Putin-Fan Matteo Salvini, und einer Unterschriftensammlung wurde schliesslich nur ein Brief des ukrainischen Präsidenten verlesen.
Michelle Steinbeck ist Autorin und seit der Pandemie Sanremo-Korrespondentin.