Erwachet!: Emotionen, Revolutionen

Nr. 10 –

Michelle Steinbeck über eine geballte Ladung Kulturindustrie

In der ersten Märzwoche lief auf Rai 1 das Fernseherlebnis des Jahres: das Sanremo-Festival, der älteste Popmusikwettbewerb Europas. Seine Geschichte beginnt 1951, als sich Italien nach der faschistischen Diktatur in einem neuen Kleid präsentieren will: Fortschritt, Technologie, Kulturförderung. Die ursprüngliche Idee sozialistischen Hintergrunds weicht jedoch schnell einer nationalistischen: Ziel wird die Rückbesinnung auf traditionelle (regionale) Volksmusik fern von internationalen Einflüssen; gleichzeitig soll der Regionalismus überwunden und eine nationale Populärmusik erschaffen werden.

Ergebnis ist ein Glotzmarathon von über zwanzig Stunden, der die seit Goethe weitverbreitete Italiensehnsucht bei den einen und den Patriotismus bei den anderen anfachen und schüren soll. Kein Wunder, werden nach diesem Jahr der Pandemie, die Italien besonders hart getroffen hat, schwere Geschütze aufgefahren – zur Eröffnung des Finalabends trompetet etwa die Militärkapelle der Marine die Nationalhymne.

Die romantischen Zeiten vom gemeinsamen «Felicità»-Singen auf dem Balkon sind vorbei: Das Land hat eine der höchsten Todesraten in Europa, und die wirtschaftlichen Auswirkungen sind katastrophal. Knapp eine halbe Million Menschen haben ihren Job verloren, siebzig Prozent davon sind Frauen; die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei dreissig Prozent. Häusliche Gewalt und Suizide häufen sich. Unzählige Firmen gingen bankrott; mafiöse Organisationen sahnen ab. Schuld ist nicht zuletzt auch die lang anhaltende Regierungskrise.

Wie also sieht die nationale Selbstdarstellung in Sanremo 2021 aus? Zwischen den musikalischen Darbietungen gibt es natürlich viel Platz für Werbung und Klamauk. Verantwortlich für Letzteren ist vor allem Komoderator Fiorello, Kabarettist der alternden Garde. Besonders die Queerness von Sänger Achille Lauro scheint ihn zu jucken: Gefühlt die Hälfte aller «Witze» gehen auf dessen Kosten. Dass derselbe Fiorello dann einen Gastauftritt in Lauros mit Abstand homoerotischster Performance hat, kommt überraschend. Danach wird er steif wie ein Brett von der Bühne getragen – Lauro habe ihn «verhext».

Mehr oder weniger reflektiert werden in Sanremo also auch gesellschaftliche Themen verhandelt, wie Homophobie und starre Geschlechterrollen. Frauen werden etwa so gekleidet, dass sie beim Auftritt auf der Treppe Gefahr laufen, sich den Hals zu brechen. Dies fällt wohl besonders auf, da die Moderatoren heuer nicht galant den Arm reichen dürfen. Frauen betreten die Bühne also grundsätzlich auf wackligen Beinen und mit dem Ausruf: «Ich habe überlebt!»

Die siebzigjährige Loredana Bertè thematisiert denn auch geschlechterspezifische Gewalt nicht zufällig in Form von Schuhen: Für ihren Gastauftritt bringt sie ein paar rote High Heels mit, als Symbol für den Kampf gegen Femizide.

Sonst sind es besonders die jüngeren TeilnehmerInnen, die an den Genderstereotypen rütteln. Sängerinnen, die ihren Bühnenpartnern die Blumen weiterreichen; Rapper in Röcken, oder andere, die ungeniert in Tränen ausbrechen. Höhepunkt ist jedoch eine Performance von Lauro, die mit einer Männerhochzeit beginnt und in einem leidenschaftlichen Kuss endet. Die junge Generation macht damit in Sanremo klar, dass sie gemäss Gewinnertitel nicht «zitti e buoni» (still und brav) bleibt.

Michelle Steinbeck ist Autorin mit Italiensehnsucht.