Licht im Tunnel: Kein harter Kerl
Michelle Steinbeck über den Sieg eines Antisoldaten

Es hat Tradition, dass ich hier über das Musikfestival von Sanremo berichte – diesen fünftägigen Fernsehmarathon, diesen zwanzigstündigen Kulturindustrie-Irrsinn, bei dem die Sommerhits des Jahres in Gehörgänge und Hirne geprügelt werden und der nebenbei die brennenden Themen der Nation verhandelt. Oder auch nicht. Dieser Jahrgang litt unter dem reaktionären Mehlsack, der als neuer Moderator jeden Anflug von Witz, Charme oder Grandezza im Keim erstickte. Enthusiastisch war er ausschliesslich beim Ansagen der langen Werbefilme des Sponsors Eni, des Erdölriesen, der es heuer offenbar nicht mal mehr für nötig hält, nachhaltig zu tun. Und nur ein Lied bringt den Moderator zum Hopsen, nämlich der neue, aggressive Sanremo-Jingle «Tutta l’Italia», bei dessen peinopatriotischen Lyrics einem «spaghetti, vino e padre nostro» hochkommen.
Aufstehen durften auch drei Mädchen aus dem Publikum. Ihre Klasse hatte einen Schulwettbewerb gewonnen, ausgeschrieben vom Meloni-Ministerium für «Gleichberechtigung und Familie». Eine Kampagne zur Gewalt gegen Frauen – «ein sehr wichtiges Thema», staubt der moderierende Mehlsack. Die Mädchen stehen da und lächeln: Für ein Lied, in dem ihr Lehrer geschrieben hat, dass sie lieber nicht umgebracht werden wollen, dürfen sie nun vor den Kameras stehen und sich anhören: «Ihr Jungen seid die Zukunft. Es liegt in eurer Verantwortung, eure Freunde und Geschwister und auch uns Erwachsene über den gegenseitigen Respekt von Männern und Frauen aufzuklären. Das müsst ihr euch verdienen!» Der Moderator schickt seiner Frau in der ersten Reihe einen Luftkuss, um allen zu zeigen, wo sein Respekt hängt: «La mia mogliettina!» – meine kleine Frau, mein Weiblein.
Kurze Lichtblicke in diesem grausigen Spektakel sind die Gastauftritte von Italiens Superstar, Choreoqueen und Schwulenikone Mahmood. Und ein Teilnehmer im Wettbewerb, der auf den ersten Blick wie Mahmoods Gegenteil wirkt: klein, schmächtig, mit weisser Clownsschminke, verzittertem rotem Lippenstift. In seinem Lied klingt das so: «Ich wollte ein harter Typ sein, der sich nicht für die Zukunft interessiert, ein Roboter […], aber ich bin nicht mit einem harten Gesicht geboren, ich habe Angst im Dunkeln.» Lucio Corsi war bis vor kurzem den wenigsten ein Begriff – «Bin kein Star, sondern ein Nieser», wie es im Lied heisst. Vor einigen Jahren spielte er in einem Indiefilm sich selbst: Er sollte Sanremo «retten» und Italien wieder auf den guten Geschmack bringen. Zumindest Letzteres scheint auch in Realität zu funktionieren: Lucio Corsi wird zum Überraschungshit des Jahres.
Das gibt Anlass zur Hoffnung. Denn Corsi («Ich bin niemand, weisser Judogürtel») verkörpert das Gegengift zum soldatischen Mann, den Klaus Theweleit als Ursache aller Gewalt, aller Kriege beschreibt. Männer, die den eigenen Körper nur spüren können, indem sie anderen Körpern Gewalt antun. Die sich aus Angst vor der eigenen Auflösung ständig «panzern» und ihre Umwelt bekämpfen, statt mit ihr zu verschmelzen. Corsi hält dem entgegen: «Die Sonnenblumen mit Sonnenbrillen haben mir gesagt: Pass auf vor dem Licht. Aber am Ende bringt es nichts, vor deinen Ängsten zu fliehen.»
Nun fährt er als Zweitplatzierter mit seinem antimaskulinistischen Canzone nach Basel zum Eurovision Song Contest. Und bringt, dank des Rückziehers des Gewinners Olly, nicht nur für Italien schöne Zukunftsmusik.
Michelle Steinbeck ist Autorin. Sie empfiehlt die Lektüre von Theweleits «Männerfantasien» wie das Aufdrehen von Lucio Corsi: «Volevo essere un duro».