«Monde vor der Landung»: Leben auf der Innenschale eines Eis
Will die Menschheit überleben, benötigt sie Schönheit und Vorstellungskraft. Davon erzählt Clemens Setz in seinem neuen Roman über einen Schwurbler, der zum Opfer der Nazis wird.

«Was dieser Mann für Sätze konnte!» Irgendwann im verzweifelten Jahr 1937 steht die Schuldirektorin Hedwig Michels auf einer Brücke in Frankfurt, ignoriert den lockeren SA-Schritt der Vorübergehenden, schaut in den Sternenhimmel und denkt an Peter Bender. Dieser betätigt sich als Lehrer an Hedwigs Institut, noch überzeugender aber als ihr Liebhaber. Allerdings als ein Liebhaber, der vor allem die Erotik des eigenen Redeflusses pflegt. Bender erzählt stundenlang von den Sternen und von der Menschheit, die einst wie Steinpilze, Kakteen oder Mäuse aus einem aufbrechenden Mond schlüpfte und nun auf der Innenseite eines riesigen Eirunds lebt, in einer Innenwelt, erfüllt von astrologischen Korrespondenzen.
Aktualität als Hohlraum
Was dieser Mann für Sätze kann! Dies gilt vor allem für den Autor Clemens Setz. Denn irgendwann wird einem bei der Lektüre seines staunenswerten Buches klar, dass Benders Weltinnenraum, diese eiförmige «Mondschale, die unser gesamtes Sein und Wesen umschliesst», gar kein physikalisches Weltbild darstellt, sondern ein poetisches. Setz führt die Leserinnen und Leser mit seiner Figur, dem mono- und egomanischen Schriftsteller Peter Bender, immer tiefer in jene verborgene alternative Wahrheit, die man Literatur nennt und in der alles mit allem in geheimer Verbindung steht. Newtons Mechanik und Einsteins Relativität haben nichts zu suchen in diesem sich nur nach innen ausdehnenden Universum. Als Bender einmal eine Lesung des Dramatikers Johannes Schlaf besucht – der während der Weimarer Republik ernsthaft ein geozentrisches Weltbild vertrat –, lässt er sich nachher fast nicht mehr beruhigen. Zu aufregend ist die Erkenntnis eines Universums, das sich wie in einem Märchen im Inneren einer Nadel befindet. «Es sei doch nur Literatur gewesen», will der Freund einwenden. Doch Erzählung und Wirklichkeit sind für Bender identisch.
Natürlich könnte man diesen Roman als Parabel auf Querdenker und Schwurblerinnen verstehen, die wider naturwissenschaftliche Erkenntnisse, beispielsweise biologische Tatsachen über die Verbreitung von Viren, die absurdesten Gerüchte glauben. Doch die Aktualität stellt für diesen Text nicht eine einfache Vorlage dar, sondern eine Art Hohlraum, mit dem er unheimliche Resonanzen erzeugt. Seine Stärke gewinnt Setz’ Geschichte daraus, dass sie keine einfachen Deutungen zulässt und mit dieser Deutungssperrigkeit demonstriert, was das Erzählen eigentlich sein kann: ein Übungsplatz für die Kraft der Fantasie und damit auch eine alternative Erklärung der Welt.
Ein weiterer Hohlraum des Textes ist die deutsche Geschichte. Denn Bender ist im Ersten Weltkrieg Aufklärungspilot und wird bei einem Absturz (und anderen grauenhaften Erlebnissen) schwer traumatisiert. Während der 1920er Jahre engagiert er sich an seinem Wohnort Worms für die menschenfreundlichen Ideen der Räterepubliken und verschiedene Sozialutopien, die immer wieder an den gewaltsamen Realitäten scheitern. Seine Frau Charlotte ist Jüdin, und Bender bleibt trotz allem bei ihr. Das Ehepaar wird schikaniert und diskriminiert, Bender verhaftet und im KZ Mauthausen ermordet, Charlotte nach Auschwitz deportiert.
Im Spiegel des Wahnsinns
Auch diese trostlose Geschichte basiert ebenso wie Benders Innenwelt auf historischen Fakten. Immer wieder sind Quellen in den Romantext eingefügt, etwa Korrespondenzen mit Mitgliedern einer Innenweltgemeinde in Florida. Dort hatte Cyrus Teed, genannt Koresh, im 19. Jahrhundert eine etwa 4000 Anhänger:innen zählende Religion gegründet, nach der die Menschheit auf der Innenseite eines Hohlraums lebt. Bei aller Faszination für die Skurrilitäten des benderschen Weltbilds verfolgt der Roman aber kein historisches Interesse, eher ein metahistorisches. Er sei, so meint Bender einmal, «antipodisch verstrickt mit diesem Putschisten in München».
An einer anderen Stelle behauptet er, dass eine Linie von Luth-er zu Hitl-er bis zu Bend-er führe und er durch die Silbengleichheit als Messias auserwählt sei. Ist Benders Wahnsinn also ein Spiegel für den Wahnsinn der Nazis? Setz lässt auf jeden Fall keinen Zweifel daran, dass die Theorie der Innenwelt, die esoterischen Ideen des priesterlichen Paares oder der «Quadratform der Liebe» (die Bender obsessiv mit Hakenkreuzschemata verbildlicht) angesichts der faktualen Realität gar nicht mehr so wahnsinnig sind. Eine der ergreifendsten Passagen des Romans schildert, wie Bender zu einer schwangeren Frau im Bombenkeller sagt: «Ich wünschte, ich würde in das alles hier hineingeboren werden. Dann hielte ich es für normal.»
Vorstellungskraft trainieren
Ja, dieser Bender ist ein furchtbarer Schwafler, und Setz wird nicht müde, die Komik sowie die für die Mitmenschen zerstörende Wirkung seines grotesken Narzissmus zu schildern. Doch die Weigerung, «dies alles tatsächlich als normal und naturgegeben zu empfinden», zeigt auch die Menschlichkeit dieses grossen Kindes. Bender gewöhnt sich nicht an die Unmenschlichkeit seiner Umgebung. Indem Setz diese Figur ins Zentrum stellt und die ganze Welt um Benders Kopf kreisen lässt, erinnert «Monde vor der Landung» an einen Schelmenroman, in dem die Weltgeschichte aus der Sicht eines Kindes nacherlebt wird, ein Verfahren, das im «Simplicissimus», der «Blechtrommel» von Günther Grass oder Imre Kertészs «Roman eines Schicksallosen» berühmt geworden ist.
Dies zwingt einen dazu, die ganze absurde Realität des 20. Jahrhunderts mit Bender noch einmal neu zu sehen. Aber es führt wiederum dazu, sich völlig fantastische Dinge vorzustellen, die gar nicht so sinnlos sind. Denn erinnern Insekten nicht tatsächlich an Aliens? Wie könnten wir uns die Welt aus der Sicht von Wespen überhaupt vorstellen? Ist der Gedanke einer Welt auf der Innenschale eines Eis nicht tröstlich, vielleicht auch nur, weil er so amüsant ist?
Setz beschreibt die Auswirkungen von Verschwörungstheorien einerseits gnadenlos, so ist der Nationalsozialismus mit seinem wahnhaften Antisemitismus sicher eine der gravierendsten Verschwörungsideologien. Hirngespinste wie QAnon oder Vorstellungen von Reptilienmenschen prägen die US-Politik dramatisch, wie die Trump-Anhänger:innen bei der Erstürmung des Kapitols 2021 deutlich gemacht haben. Andererseits sind Verschwörungstheorien auch Erzählungen, mit denen Menschen eine kontingente und kalte Welt mit Sinn erfüllen und die an sich oft harmlos sein mögen.
Setz, der in Interviews öfter über seine Ufogläubigkeit Auskunft gibt, möchte uns zum Glück nicht von Chemtrails, der heilenden Kraft der Steine oder Homöopathie überzeugen und schon gar nicht von der Innenwelttheorie. Sein Roman überzeugt lediglich vom Vermögen der Literatur. Dieses besteht darin, etwas mit aller Verrücktheit und allen Details auszumalen, alternative Welten und Paralleluniversen zu imaginieren, sich Geschichten zu erzählen, an deren Realität man nicht glauben muss, um ihre Wirkung zu erfahren. Durch das Erzählen von Geschichten trainieren wir unsere Vorstellungskraft und spenden uns Trost. Wollen wir als Menschheit überleben, benötigen wir deshalb nicht nur alternative Energien, wir brauchen auch alternative Geschichten. Setz’ Roman ist selbst eine Art Mond vor der Landung, voller Sehnsucht nach Schönheit und Sinn hält er einen noch lange nach der Lektüre mit seiner Anziehungskraft gebannt.

Clemens J. Setz: «Monde vor der Landung». Roman. Suhrkamp Verlag. Berlin 2023. 528 Seiten. 36 Franken.