Italien: Den Antifaschismus verschrotten?

Nr. 47 –

In zehn Tagen stimmt Italien über eine Verfassungsreform ab. Geht es nach Ministerpräsident Matteo Renzi, könnte künftig eine einzige Partei die Politik dominieren – und das mit nur einem Drittel der Stimmen.

Keine zwei Wochen vor dem Stichtag am 4. Dezember droht in Italien der Konflikt zwischen BefürworterInnen und GegnerInnen der Verfassungsreform zu eskalieren. Besonders tief ist der Riss innerhalb des Partito Democratico (PD) von Regierungschef Matteo Renzi, wie sich an einer Parteiversammlung Anfang November in Florenz offenbarte: Dort forderten PD-Mitglieder mit Sprechchören lautstark den Ausschluss der linken Minderheit aus der Partei.

Gegenstand des Streits ist eine Verfassungsänderung, die Italiens Demokratie tiefgreifend umkrempeln würde: das Gesetz Renzi-Boschi, benannt nach dem Ministerpräsidenten und seiner Reformministerin Maria Elena Boschi. Es sieht vor, den Senat – die zweite Kammer des Parlaments – zu verkleinern und in seinen Kompetenzen zu beschneiden. So soll dieser etwa nicht mehr an Vertrauensabstimmungen über die Regierung beteiligt sein. Dafür würden dem Senat Entscheidungsbefugnisse der Regionen übertragen, die ihrerseits an Einfluss verlören. Der «bicameralismo perfetto» (das perfekte Zweikammersystem) wäre damit Geschichte. Dieses war 1948 als Teil der bis heute gültigen Verfassung eingeführt worden – und zwar ausdrücklich aufgrund der vorhergegangenen Faschismuserfahrung.

Fragmentiertes Nein-Lager

Das Zweikammersystem sollte die Macht der Regierung durch eine starke Legislative eingrenzen. Dafür wurde ein etwas schwerfälliges Gesetzgebungsverfahren in Kauf genommen: Wie in der Schweiz müssen jeweils beide Kammern – Abgeordnetenhaus und Senat – jedes neue Gesetz gleichermassen beschliessen. Nun argumentieren die ReformbefürworterInnen, dass solche «antifaschistischen Garantien» heute überholt seien. Stattdessen würden sie effektives Regieren verhindern und unnötige Kosten verursachen. Ohne diese Hemmnisse, so ihre fragwürdige These, wäre der wirtschaftliche Aufschwung Italiens garantiert.

Die GegnerInnen verweisen hingegen auf die negativen Folgen der Verfassungsänderung, die sich in Kombination mit der bereits verabschiedeten Wahlrechtsreform Italicum ergeben könnten. Diese sieht bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus für die siegreiche Liste einen Bonus vor, der ihr die absolute Mehrheit der Mandate sichert – vorausgesetzt, sie hat mindestens vierzig Prozent der Stimmen erhalten. Andernfalls wird eine Stichwahl nötig. Somit könnte eine einzige Partei die italienische Politik dominieren – selbst wenn sie im ersten Wahlgang weniger als ein Drittel der Stimmen macht. Diese Minderheit könnte etwa das Staatspräsidium besetzen oder auch eigenmächtig den Kriegszustand verhängen.

Entsprechend massiv wehren sich führende VerfassungsrechtlerInnen dagegen. Die politischen Kräfte, die Renzis autoritäre Reform verhindern wollen, verfolgen ansonsten sehr unterschiedliche Absichten: Stärkste Kraft im Nein-Lager ist der populistische Movimento 5 Stelle (M5S), gefolgt von Berlusconis Forza Italia und der noch rechteren Lega Nord. Der linke Flügel des Partito Democratico hingegen konnte sich bislang auf keine gemeinsame Linie verständigen, weil die meisten WortführerInnen den Bruch mit dem Ministerpräsidenten scheuen. Sie hoffen darauf, dass sich Renzi nachträglich zu einer Entschärfung des Italicum-Wahlgesetzes bereit erklärt. Nur einzelne prominente PD-ExponentInnen stellen sich klar gegen die Reform, darunter der ehemalige Parteisekretär Pier Luigi Bersani und der frühere Ministerpräsident und Aussenminister Massimo D’Alema.

So wird die Nein-Kampagne vor allem von überparteilichen Komitees und linken sozialen Bewegungen getragen. Am 22. Oktober beteiligten sich in Rom 40 000 Menschen an einer Demonstration unter der Parole «Nein zur Gegenreform, Nein zur Regierung Renzi». Ihre Forderungen richteten sich auch gegen die unsozialen Arbeitsmarktreformen des «Jobs Act», das neoliberal-autoritäre Bildungsprogramm «Buona Scuola» (gute Schule) und die unmenschlichen Lebensbedingungen vieler Flüchtlinge in Italien.

Leitmotiv: Auflehnung

Der Ausgang des Referendums ist völlig offen. Renzi agitiert seit Monaten täglich auf allen Kanälen für seine Reform. Derweil streiten BeobachterInnen über einen möglichen Effekt, den Donald Trumps Wahlsieg in den USA auf die Abstimmung haben könnte. Die einen argumentieren, Trump könnte auch in Italien diejenigen ermutigen, die es «den Etablierten» – in diesem Fall Renzi – mal so richtig zeigen wollten. Andere meinen, dass die neue politische Unübersichtlichkeit in der Welt viel eher das Bedürfnis nach Stabilität fördere und dem Regierungschef folglich entgegenkomme.

Renzi will beiden Erwartungen gleichzeitig gerecht werden: Er präsentiert sich einerseits als Garant politischer und wirtschaftlicher Standfestigkeit, beruft sich zugleich aber auch auf die hinter ihm stehende «schweigende Mehrheit» und wütet gegen das Establishment. Leitmotiv bleibt dabei die Auflehnung gegen «das Alte», insbesondere die Riege etablierter PolitikerInnen, die den Fortschritt blockieren und nur ihre eigenen Privilegien verteidigen würden. Deren «rottamazione» (Verschrottung) ist seit Jahren Renzis erklärtes Ziel. Nun ist er drauf und dran, die antifaschistischen Garantien der italienischen Verfassung zu verschrotten.

Italien und die EU : Wer die PopulistInnen imitiert, verliert

Eigentlich stimmt die italienische Bevölkerung am 4. Dezember lediglich über eine Reform der Verfassung ab. Tatsächlich könnte der Tag jedoch zum Votum über die Zukunft der italienischen Regierung (und damit der gesamten EU) werden. Denn eine Abstimmungsniederlage könnte Ministerpräsident Matteo Renzi das Amt kosten. Immer wieder hatte Renzi erklärt, zurücktreten zu wollen, falls eine Mehrheit der ItalienerInnen seine Reform ablehnen sollte.

Zwar hatte er entsprechende Aussagen auch wiederholt relativiert; doch da war die Abstimmung schon längst zum Befund über die Person Renzi geworden, das Schicksal des Landes längst mit seinem verknüpft. Wie gefährlich eine solche Personalisierung werden kann, hatte bereits das Brexit-Votum im Juni gezeigt. Auch Premierminister David Cameron vermischte eine Sachfrage mit der Bewertung seiner Regierung. Als die Mehrheit der BritInnen für den Austritt aus der EU stimmte, musste Cameron zurücktreten.

In Italien stehen die AufwieglerInnen derweil schon in den Startlöchern: die rechtsextreme Lega Nord genauso wie die populistische Fünf-Sterne-Bewegung, die in Umfragen zurzeit sogar vor Renzis Partito Democratico steht. Um den PopulistInnen mit ihrer Anti-EU-Rhetorik den Wind aus den Segeln zu nehmen, änderte auch Renzi – bisher einer der standhaftesten Freunde der EU – seine Strategie. Statt wie bisher stets die Einheit Europas zu beschwören, wetterte er zuletzt gegen «engstirnige Bürokraten und Erbsenzähler in Brüssel», von denen er «keine Befehle oder Belehrungen» entgegennehme. Damit hoffte er, eine Mehrheit der Bevölkerung, in der zuletzt der Unmut über die EU wuchs, doch noch für sich zu gewinnen. Doch wie sich immer wieder gezeigt hat: Wer die PopulistInnen imitiert, verliert.

Gerade haben die US-AmerikanerInnen Donald Trump zum Präsidenten gewählt. In Österreich könnte der rechtsextreme Norbert Hofer das nächste Staatsoberhaupt werden. Und wenn kommenden Frühling in den Niederlanden und in Frankreich gewählt wird, haben die RechtsextremistInnen Geert Wilders und Marine Le Pen gute Siegeschancen.

Renzis Niederlage hätte deshalb nicht zuletzt gravierende Folgen für die ganze EU: Eine politische Krise in Italien wäre der nächste Schock für eine schwer angeschlagene Union. Entsprechend gross ist in Brüssel die Angst vor einem weiteren Aufstand der Empörten. Dabei kursieren bereits verschiedene Szenarien für den Fall eines Rücktritts des Ministerpräsidenten: von einer Abstimmung über den Verbleib Italiens in der Eurozone – bis zum «Italexit», einem Austritt Italiens aus der EU.

Anna Jikhareva