«Tár»: Wem das Metronom schlägt

Nr. 8 –

Hüterin der Zeit: Cate Blanchett verkörpert in «Tár» eine Stardirigentin, die ihre Macht missbraucht. Der Film des Drehbuchautors und Regisseurs Todd Field ist ein diskursives Minenfeld – und verweigert sich geschickt jeder eindeutigen Interpretation.

Still aus dem Film «Tár»: Cate Blanchett als Dirigentin Lydia Tár
Unübersehbar das autoritäre Zentrum: Dirigentin Lydia Tár (Cate Blanchett) orchestriert ihr berufliches und ihr privates Umfeld wie einen Hofstaat. Still: Focus Features


Es gibt kaum eine kulturelle Sphäre, die so gegensätzliche Qualitäten erfordert wie die klassische Musik: höchste Sensibilität bei gleichzeitig härtester Disziplin. Empfindsamkeit und Abhärtung, wie geht das zusammen? Wenn eine hochsensible Künstlerin vom göttlichen Hauch der Musik spricht: Macht sie das zur Heuchlerin, wenn sie zugleich ein Monster ist?

«You’re a fucking bitch», sagt der Student, packt entnervt seine Sachen und verschwindet aus dem Saal. Die Bitch, das ist Cate Blanchett als Stardirigentin Lydia Tár, die ihn als Gastdozentin einer Eliteklasse gerade vor seinesgleichen gedemütigt hat. Es ist ein Clash der Generationen, der sich vor unseren Augen ereignet hat, nachdem der Student erklärte, dass er mit Johann Sebastian Bach nicht viel anfangen könne. Und hier, in der hochkultivierten Domäne der klassischen Musik, heisst das vor allem auch: ein Clash der künstlerischen Haltungen und Tonalitäten.

Es ist die Szene in Todd Fields Film «Tár», an der sich schon ganze Debatten entzündet haben, weil sie einige der kulturellen Obsessionen unserer Zeit auf so prägnante Weise vorführt: Identitätspolitik, Machtmissbrauch, Opferdiskurs – und das alles vor dem Hintergrund der Frage, ob und wie weit sich ein Kunstwerk vom Leben seines Autors oder seiner Autorin trennen lässt. Die Szene in «Tár» zeigt das als Showdown, in dem zwei verabsolutierte Positionen aufeinanderprallen – wie zwei diskursive Währungen, die sich nicht umrechnen lassen.

Total getriggert

Die Währung des Studenten ist seine Identität, die er explizit benennt: Pangender, Person of Color. Unter diesen Voraussetzungen sei es ihm praktisch unmöglich, die Musik des misogynen weissen Europäers Bach zu schätzen. Die Dirigentin wiederum, total getriggert davon, führt zuerst noch ihre eigene Identität als Lesbe ins Feld, die sich den alten männlichen Klassikern des Kanons gestellt habe, statt vor ihnen zurückzuweichen. Dann aber spielt sie ihre ästhetische Währung aus: umfassende Werktreue. Also im Dienst der Musik (nicht des Komponisten) das Ich sublimieren, die eigene Identität ausradieren. Ein hehres Ideal, aber das muss man sich auch erst mal leisten können, oder?

Zugleich ist es natürlich hochgradig ironisch, wer hier gerade die Auflösung des Egos predigt: ausgerechnet die Dirigentin, aufgrund ihrer Stellung das unübersehbare autoritäre Zentrum, nach dem sich das ganze Orchester zu richten hat, auf das nur schon räumlich alles ausgerichtet ist. Der Film ist voll von solchen Ambivalenzen, von Bildern und Szenen, die in ganz anderem Licht erscheinen, je nachdem, von welcher Warte aus man sie wahrnimmt.

Nur schon, dass der Abspann in «Tár» am Anfang steht – und zwar gerade nicht die Namen der Stars und der kreativen Crew, sondern alle die klein gedruckten Funktionen, von der Maske bis zum hinterletzten Gaffer, Runner und wie sie alle heissen. Auf den ersten Blick ist das eine schöne Geste von Autor und Regisseur Todd Field in seinem erst dritten Film nach «In the Bedroom» (2001) und «Little Children» (2006). Er stellt «Tár» die unzähligen Leute voran, deren Namen gewöhnlich erst dann auf der Leinwand erscheinen, wenn fast niemand mehr im Saal ist, obwohl ihr Beitrag für dieses Kunstwerk genauso unverzichtbar war. Und im Licht dessen, was der Film über Kunst, Macht und Privilegien erzählt, ist das nur konsequent. Andererseits ist es ziemlich prätentiös, der penetrante Wink eines Regisseurs, der uns gleich zu Beginn klarmachen will: Ich richte mich nicht nach irgendwelchen Gepflogenheiten, hier läuft alles genau so, wie ich es will. Die grosszügige Geste hat auch etwas Selbstherrliches.

Selbstherrlich: Das gilt unbedingt für die Hauptfigur, die ihr Umfeld orchestriert wie eine Regentin ihren Hofstaat. In Berlin lebt Lydia Tár zusammen mit Frau und Tochter in einem Mausoleum aus Beton: absurd hohe Räume, Kunst und Designermöbel. Ihre Partnerin (Nina Hoss) ist Geigerin und unter Tár Konzertmeisterin im Orchester. Aber auch sonst ist das Berufliche kaum vom Privaten zu trennen, weil Tár ihre Schützlinge offenbar gerne auch als Mätressen rekrutiert – und sie dann fallen lässt oder gar diskreditiert.

Vordergründig elitär

Dass es hier ausgerechnet eine Frau ist, die ihre Macht missbraucht, noch dazu in einer ausgesprochenen Männerdomäne, in der eine ganze Reihe von Vorfällen aktenkundig sind: Das hat für Unverständnis gesorgt. Namentlich bei der US-Dirigentin Marin Alsop, die den Film deshalb als «frauenfeindlich» brandmarkte. Sie empfinde «Tár» als Beleidigung, und zwar als Frau, als Dirigentin und als Lesbe, erklärte Alsop in einem Interview in der «Sunday Times».

Man muss darauf nicht so giftig zurückfragen, wie das Lydia Tár ihrem Studenten gegenüber tut: «Warum nur sind Sie so erpicht darauf, beleidigt zu sein?» Aber sollen wir diese schillernde, widersprüchliche, ja monströse Figur denn gleich wieder auf ein paar identitäre Marker reduzieren? Es gibt da noch eine Ebene, die Alsop, aufgewachsen als Tochter eines Konzertmeisters und einer Cellistin an der Upper West Side, vielleicht übersieht. Sie ist auch leicht zu übersehen in dem ganzen bildungsbürgerlichen Habitus, den der Film mit seiner Protagonistin zelebriert.

Hier ein Schopenhauer-Zitat, da eine Anekdote über Furtwängler: Vordergründig ist «Tár» ein extrem elitärer Film. Dabei nimmt er es einfach sehr genau mit dem Milieu, in dem er spielt. Und eben, Lydia Tár ist in diesem Milieu selber zugezogen, eine Aufsteigerin, wie der Film erst spät zeigt. Die souveräne Eleganz, mit der sie sich zuvor durch ihre Welt bewegt, ist also Mimikry, einstudiert und antrainiert. Tár musste ihre soziale Herkunft auslöschen oder zumindest überschreiben, um die Sphäre der Hochkultur zu erobern. Und man begreift: Wenn sie doziert, dass man für die Kunst seine Identität auflösen müsse, war das für sie nicht immer schon eine rein ästhetische Maxime (eine Maxime, die sie als Machtmensch ohnehin laufend verrät) – zuallererst war es biografische Notwendigkeit für ihren Aufstieg. Aber wieso sollte es die nächste Generation ihr gleichtun?

Ihre Tragik besteht dann darin, dass sie in der Musik, vor dem Orchester, die Tempi kontrolliert, den Lauf der Zeit also buchstäblich in der Hand hat – und paranoid wird, als ihr dämmert, dass ihre eigene Zeit irgendwann doch ablaufen wird. Das ist, wenn man so will, der eigentliche Plot von «Tár». Aber wo der Trailer einen effektvollen Psychothriller verspricht, erzählt der Film mehr über Andeutungen. Das gespenstische Metronom zu Hause im Kabinett, die panischen Schreie einer Frau irgendwo im Park, die Sirene einer Ambulanz: Das sind Motive, die Lydia Tár schleichend aus dem Takt bringen, ohne dass sie aufgelöst würden.

Eine gerechte Strafe?

Es ist nicht zu viel verraten, wenn man sagt, dass die Geschichte dieser Dirigentin der Dramaturgie einer klassischen Tragödie folgt. Verblendet in ihrer Macht, leitet Lydia Tár auf dem Zenit ihres Ruhms ungewollt ihren eigenen Sturz ein. In einer fiesen Pointe tut sie das einmal gar buchstäblich: Da fällt sie, die soziale Aufsteigerin, so unglücklich, dass sie auf dem obersten Absatz einer Treppe aufschlägt.

Es ist ein ungewohnt eindeutiges Bild in diesem Film, der sonst das Schillern der Ambivalenzen zum Programm erhebt – und der das bis zur allerletzten Einstellung durchhält. Denn auch die Schlussszene ist wieder so ein Kippmoment, der mehr als eine gültige Wahrheit enthält. Sollen wir in Lydia Tár die Gefallene sehen, die der Welt abhandengekommen ist und jetzt fernab der europäischen Hochkultur ihre gerechte Strafe verbüsst? Kann man so sehen, wenn man die Werte des bildungsbürgerlichen Kanons absolut setzt. Oder ist sie nach ihrem Niedergang wieder näher bei sich und ihrer primären Liebe zur Musik angelangt?

Schmach und Erfüllung: Die Kunst besteht darin, beides zugleich zu denken.

«Tár». Regie und Drehbuch: Todd Field. USA 2022. Jetzt im Kino.