«Liebes Arschloch»: Tränen statt Blut

Nr. 9 –

Schonungslos, aber längst nicht mehr so zornig wie einst schildert Virginie Despentes in ihrem neuen Roman einen #MeToo-Fall. Doch auch in diesem Werk steht am Schluss kein Happy End.

Portraitfoto von Virginie Despentes
Ein Plädoyer fürs Nüchternsein: Virginie Despentes ist für Überraschungen gut. Foto: Patrick Swirc, Modds


Ein versöhnliches Buch zu #MeToo? Von Virginie Despentes? Ausgerechnet die französische Skandalautorin, die in Büchern wie «Baise-moi» (1994), «Apokalypse Baby» (2010) oder «Vernon Subutex» (2015) zornige Frauen erschuf, die Männer in blutigen Racheaktionen folterten oder töteten, soll nun mild geworden sein, wie fast schon enttäuschte Kritiker:innen in den deutschsprachigen Rezensionen vermeldet haben. Und tatsächlich fliesst in «Liebes Arschloch» kein Blut, sondern Tränen, es gibt keine expliziten Sexszenen, dafür viel Aufklärung in Sachen Machtmissbrauch und Übergriffigkeit. Doch ist Despentes’ Roman tatsächlich so versöhnlich wie behauptet?

«Liebes Arschloch» beginnt mit einem frustrierten, misogynen Rant von Oscar Jayack auf Instagram. Er habe Rebecca Latté gesehen und diese «göttliche Frau, die zu ihren besten Zeiten so viele Teenies in die Faszination der weiblichen Verführung eingeführt hat», sei heute zu einer Schlampe verkommen: ein «schmuddeliges, lautes Weibsstück». Der Rahmen ist gesteckt, der Mann charakterisiert. «Liebes Arschloch» ist denn auch die Ansprache im ersten Mail, mit dem Rebecca für Oscar völlig unerwartet auf seinen hasserfüllten Post antwortet – und zwar sehr zornig. Es entwickelt sich ein Mailaustausch zwischen den beiden, dem 43-jährigen, mittelmässig erfolgreichen Autor und der 50-jährigen Schauspielerin, die in jüngeren Jahren ein echter Star war. Beide haben ihre grossen Tage hinter sich, und während sich Oscar mit Alkohol und Kokain die Birne zudröhnt, flieht Rebecca seit Jahren mit Heroin vor der Langeweile.

Unerwarteter Wandel

Gleich zu Beginn des Mailverkehrs erzählt Oscar selbstmitleidig, wie er schuldlos Opfer einer bösartigen #MeToo-Kampagne geworden sein will: Zehn Jahre nach ihrer Anstellung als Pressereferentin für Oscar hat Zoé Katana, mittlerweile eine bekannte feministische Bloggerin, öffentlich gemacht, wie Oscar sie damals gemobbt, bedrängt und befummelt hat. Doch statt der erhofften Empathie von Rebecca bekommt Oscar Nachhilfeunterricht. Schonungslos und furios, zwischendurch auch geduldig und liebevoll und immer wieder selbstkritisch führt Rebecca Oscar vor Augen, warum er kein Opfer, sondern ein Täter ist. «Du hast dich aufgeführt wie ein ganz gewöhnliches Arschloch. Einer, der Macht ausübt und behauptet, es herrsche Gleichheit», bringt es Rebecca in einem ihrer Mails auf den Punkt. Oscar wiederum macht mit der Zeit tatsächlich einen überraschenden Sinneswandel durch – und der Ton der Mails wird gemässigter.

Überraschender als der versöhnlichere Ton ist jedoch etwas anderes: Oscar und Rebecca machen auch in Bezug auf ihren Drogenkonsum einen unerwarteten Wandel durch – Despentes’ Buch kann damit zugleich als Plädoyer für Nüchternheit gelesen werden, was bei dieser Autorin doch etwas verwundert. Dazu sagte sie in einem Interview mit dem «Spiegel» Anfang Februar: «Wir feiern die Tendenz, zugedröhnt Scheisse zu bauen. Als würde man die Bestie bewundern, die sich im Mann versteckt.» Mit dieser Verklärung macht sie in diesem Buch nun endgültig Schluss.

Rebecca konfrontiert Oscar nicht nur mit seinem Fehlverhalten, sie schont auch sich selbst nicht und reflektiert zudem feministische Fragen – dies macht sie zur interessanteren Figur als Oscar. Der Feminismus habe sie erst spät erwischt, schreibt sie an einer Stelle. Da sie früher mehr als eine krude Sexszene gedreht hatte, wurde sie eher zur Zielscheibe der damaligen Feministinnen, die ihr vorwarfen, sich als Objekt zu vermarkten. Ihren Wandel vollzog sie schliesslich an einem Frauenfilmfestival, als sie begriff, dass sie die gleichen Reflexe habe wie andere Frauen ihrer Generation: «Das heisst, wenn keine Männer dabei sind, kann man es nicht ernst nehmen, es gibt kein Geld, es ist nicht so bedeutend, man ist nicht an der Spitze.»

Immer wieder erinnern Rebeccas Überlegungen an Despentes’ «King Kong Theorie», einen furiosen Essay von 2006, in dem sie sich mit Pornografie, Vergewaltigung und Prostitution auseinandersetzte: ein Plädoyer gegen die Scham, die Frauen nach Übergriffen und Vergewaltigungen empfinden, gegen die Schuld, die die Gesellschaft Frauen noch immer zuspricht, und für das weibliche Recht auf Lust – auch nach einem sexuellen Übergriff.

Kotzen vor der Arbeit

In «Liebes Arschloch» lässt Despentes zwischendurch auch Zoé Katana, die frühere Mitarbeiterin Oscars, mit ihrem Blog zu Wort kommen. Dadurch erweitert sie die Perspektive auf die Geschichte und gibt der jungen Generation Feministinnen eine Stimme. Egal was sie mache, es sei falsch, schreibt Katana: «Wenn ich rede, werde ich dafür gehasst. Wenn ich nicht rede, ersticke ich. Und indem ich das heute hier schreibe, binde ich mich noch enger an ihn.» Sie beschreibt, wie sie Tag für Tag mit Bauchschmerzen zur Arbeit mit Oscar ging oder gleich kotzte. Die Leute hätten sie in Tränen aufgelöst gesehen, doch «niemand sah das Problem. Sie sahen nur das Pittoreske an der Situation. Der Macho-Autor und die kleine Pressereferentin.» Klar wurde die «kleine Pressereferentin» ausgetauscht – auf den grossen Autor wollte der Verlag nicht verzichten.

Im Interview mit der WOZ vor fünf Jahren fragte Despentes: «Warum haben Männer so viel Wut gegenüber Frauen? Könnten sie sich bitte mal hinsetzen und darüber nachdenken?» (siehe WOZ Nr. 17/18). Nun hat sie mit Oscar Jayack eine männliche Figur erschaffen, die das macht: Oscar bei diesem Nachdenken zuzuhören, ist unterhaltsam und erheiternd – manchmal fast etwas kitschig.

Und doch verweigert sich Despentes einem allzu gefälligen Happy End. Denn auch wenn der Täter am Ende geläutert ist: Zoés Wut und ihre Wunden bleiben. Und während der Mann als Autor weiterhin die Macht über seine Worte behält, verschwindet Zoés Stimme aus der Öffentlichkeit: Doppelt traumatisiert, zuerst von Oscars Taten, dann vom ungefilterten Hass, der ihr im Netz aufgrund ihrer Worte von allen Seiten entgegenschwappt, wird sie nach einem Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik verstummen.

Denn, das zeigt das Buch auf ernüchternde Weise: Wer das Wort ergreift, gewinnt nicht zwingend die Hoheit über das zurück, was passiert ist.

Cover des Buches «Liebes Arschloch»

Virginie Despentes: «Liebes Arschloch». Roman. Aus dem Französischen von Ina Kronenberger und Tatjana Michaelis. Verlag Kiepenheuer und Witsch. Köln 2023.
333 Seiten. 34 Franken.