Rentendesaster: Bürgerliche in der Klemme
Ob die BVG-Reform noch im Parlament scheitert oder später an die Urne kommt: Den Bürgerlichen ist der Umbau der Pensionskassen komplett missglückt. Wie konnte es dazu kommen?
Jährlich über zwei Milliarden Franken mehr bezahlen für tiefere Renten. Das ist das unanständige Angebot von FDP, SVP, Mitte und GLP an die Pensionskassenversicherten. Die BVG-Reform ist mittlerweile selbst Teilen des Gewerbes zu teuer. Der Bauernverband und Gastrosuisse lehnen sie ab, weil auch Tieflöhner:innen und Teilzeitarbeitende besser versichert werden sollen. Das treibt ihre Kosten in die Höhe. Das Fuder sei überladen. Am Freitag dieser Woche entscheidet das Parlament in der Schlussabstimmung über die Reform. Wahrscheinlich ist trotz allem eine Annahme.
Diese Geschichte lässt sich nur mit Blick in die Vergangenheit verstehen. Als 1985 die zweite Säule im Grundsatz für alle Angestellten obligatorisch wurde, sorgte das Parlament für eine möglichst lasche Regulierung und schwache Aufsichtsbehörden. Diese regulatorisch herbeigeführte Intransparenz und die schwache Aufsicht ermöglichten der Finanzindustrie gute Geschäfte, gewissermassen unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Es geht um viel Geld. Und Gier.
Mehr als 1200 Milliarden Franken liegen mittlerweile auf den Konten der Versicherten. Mit der Anlage der enormen Summe verdient sich die Finanzindustrie eine goldene Nase, jährlich mindestens 6,8 Milliarden Franken. Die Wirtschaftsjournalisten Danny Schlumpf und Mario Nottaris («Das Rentendebakel. Wie Politik und Finanzindustrie unsere Vorsorge verspielen») schätzen, dass die Finanzindustrie jährlich sogar bis zu 20 Milliarden Franken aus dem System zieht und sich damit an den angesparten Vorsorgegeldern der Versicherten bedient.
Im Klammergriff
Dabei soll es bleiben. FDP, SVP, Mitte und GLP lehnten alle Anträge der Linken ab, die Finanzindustrie an der Sanierung der Pensionskassen zu beteiligen. Entscheidend ist dabei die einflussreiche parlamentarische Lobby der Finanzindustrie. Die Profite bleiben unangetastet. Auch weil manche Parlamentarier:innen via Mandate an diesem System mitverdienen. Einer der einflussreichsten Lobbyisten ist SVP-Ständerat Alex Kuprecht, Präsident der Pensionskassenanlagestiftung Pensimo. Auch Politiker der Mitte-Fraktion im Ständerat wie Daniel Fässler oder Erich Ettlin haben Pensionskassen- oder Versicherungsmandate inne. Der freisinnige Kammerkollege Josef Dittli ist Vizepräsident der Liberty Vorsorge AG, der Zürcher Nochständerat Ruedi Noser Verwaltungsrat des Asset-Managements der Credit Suisse, unter deren Kunden auch Pensionskassen sind. Die Aufzählung ist nicht abschliessend.
Es sind harte Opfer, die die bürgerlichen Parteien den Versicherten abverlangen wollen. Der Umwandlungssatz wird von 6,8 auf 6 Prozent gesenkt, was die Rentensenkungen weiter akzentuiert. Zwar sollen etwa die Hälfte der Versicherten einer Übergangsgeneration Kompensationen erhalten, damit ihre Renten stabilisiert werden. Alle anderen müssten mit noch tieferen Renten zurande kommen. Der Gewerkschaftsbund hat errechnet, dass die mittlere PK-Rente heute 230 Franken tiefer liegt als noch vor wenigen Jahren. Die BVG-Reform würde die Renten nochmals um bis zu 200 Franken monatlich senken. Nicht eingerechnet sind dabei die inflationsbedingte Verteuerung des Lebens, steigende Mieten und Krankenkassenprämien.
Eine dreiste Lüge
Es hätte auch anders kommen können. Bundesrat Alain Berset hatte den Arbeitgeber- und den Gewerbeverband sowie die Gewerkschaften beauftragt, einen Vorschlag auszuarbeiten. 2019 präsentierten sie ihr Konzept. Die Senkung des Umwandlungssatzes und die daraus resultierenden erheblichen Rentensenkungen sollten im Wesentlichen durch 0,5 Prozent Lohnabzug, also solidarisch, gegenfinanziert werden. Eine Übergangsgeneration – und davon alle Versicherten – hätte lebenslang einen monatlich fixen Zuschlag erhalten. Der Vorschlag hätte unmittelbar nach Annahme der Reform gewirkt, die Renten aller stabilisiert, Menschen mit tiefen Renten hätten sogar höhere erhalten. Der Gewerbeverband war bereits während der Verhandlungen ausgestiegen, dann distanzierten sich die bürgerlichen Parteien. Im Parlament blieb Bersets Vorlage, deren Herzstück dieser Kompromiss gewesen war, chancenlos.
Bis 2017, als eine parallele Reform von AHV und BVG im Parlament hauchdünn durchkam und dann an der Urne scheiterte, marschierte die Mitte mit der Linken. In den Jahren danach schlossen die Bürgerlichen ihre Reihen. Damit hatten sie im vergangenen Herbst Erfolg, als die AHV 21, die Rentenaltererhöhung für die Frauen auf 65, an der Urne knapp obsiegte. Die Vorlage reüssierte auch deswegen, weil die Mehrheit der Männer dafür stimmte, während der überwiegende Teil der Frauen dagegen war. Denn der Rentengap zwischen Frauen und Männern ist erheblich, im Schnitt sind die Frauenrenten, besonders wegen der Benachteiligung in den Pensionskassen, etwa um ein Drittel tiefer als jene der Männer.
Im Vorfeld der Abstimmung hatten die Bürgerlichen bekanntlich behauptet, das Problem der zu tiefen Frauenrenten werde man in der BVG-Reform angehen. Das erweist sich im Rückblick als dreiste Lüge. Die aktuellen Massnahmen in der BVG-Reform bewirken zwar, dass mehr Teilzeitarbeitende dank der Senkung des Koordinationsabzugs neu pensionskassenversichert wären. Aber die Wirkung dieser Massnahme stellt sich erst nach Jahren oder Jahrzehnten ein. Und der Effekt auf die Rente ist für Tieflöhner:innen und Teilzeitarbeitende nicht wirklich entscheidend. Wer eine tiefe Rente hat, wird dennoch von Ergänzungsleistungen abhängig bleiben. Entlastet würde damit bloss der Bundeshaushalt, weil weniger Ergänzungsleistungen ausbezahlt werden müssten.
Der Badran-Plan
Die BVG-Reform ist eine Totgeburt. Der Gewerkschaftsbund hat das Referendum bereits beschlossen. Dass es zustande kommt, daran besteht kein Zweifel. Die Abstimmung findet voraussichtlich im März 2024 statt, zeitgleich mit jener über die SP-Initiative für eine 13. AHV-Rente. Die Chancen für ein Nein stehen gut – und jene für ein Ja zur 13. AHV-Rente steigen. Mit zwei bis drei Milliarden Franken – so viel würde die BVG-Reform jährlich kosten – liesse sich ein 13. Monatslohn für Pensionierte ohne Weiteres finanzieren.
Das Scheitern der Reform, ob jetzt im Parlament oder im kommenden Jahr in der Abstimmung, wäre eine gute Sache. Damit liesse sich eine echte Reform des Vorsorgesystems einleiten, die auskömmliche Renten für alle ermöglichte, so wie es die Bundesverfassung vorsieht. Die SP-Nationalrätin Jacqueline Badran hat im vergangenen Herbst in einem WOZ-Interview einen möglichen Weg skizziert. Der Grundsatz würde darin liegen, die Lohnprozente, die heute für die AHV und das BVG erhoben werden, als Gesamtes zu betrachten. Weil die Lohnprozente in der AHV auf den gesamten Lohn erhoben werden, bringen sie dort für den Grossteil der Bevölkerung weit mehr in Bezug auf die Renten. Es sollten gemäss Badran also möglichst viele Lohnprozente vom BVG in die AHV verschoben werden.
Schon mit einem Lohnprozent mehr könnte man eine 13. AHV-Rente finanzieren, sodass die AHV-Renten tatsächlich existenzsichernd sind. Das komplizierte System der beruflichen Vorsorge soll laut Badran zurückgebaut werden. Für die Generationen, die noch im alten System wären, müsste die Finanzierung gesichert werden. Aber alle neu ins Arbeitsleben eintretenden Personen würden in der zweiten Säule zu einem tiefen obligatorischen Satz versichert. Ohne Koordinationsabzug, dafür mit einem Deckel für den versicherten Lohn. Badrans Fazit: Wir zahlen weniger und bekommen mehr Rente. Die Zeit sei reif für diesen Befreiungsschlag.
Aktuell ist das riesige Pensionskassenvermögen faktisch Teil des Finanz- und Immobilienmarkts. Badrans Vorschlag wäre auch eine Befreiung der Sozialversicherung aus dem Klammergriff der Finanzindustrie.