Von oben herab: Mit der Mutter – ohne Tunnel

Nr. 11 –

Stefan Gärtner über ein Megaprojekt

Gestern Nacht träumte mir, ich sollte auf einer WOZ-Bühne lesen und hätte, zu meiner grössten Überraschung, keine einzige der zum Vortrag bestimmten Kolumnen dabei. Nach verzweifelter, schliesslich wütender Suche der Entschluss, dann eben aus dem Stapel alter «Titanic»-Hefte vorzulesen, denn den hatte ich eingepackt und wunderte mich nicht darüber.

Es ist sicher zweifelhaft, ob das ein guter «Einstieg» (Profisprache) in eine Kolumne über den Sinn und Unsinn sogenannter Megaprojekte ist, wie ihn der geplante und sogleich kritisierte Bahntunnel vom Haslital nach Obergoms vorstellt. (Ich hab das eben einfach hingeschrieben: «vom Haslital nach Obergoms», so wie man vielleicht «von Paris nach Berlin» schreibt. Meine Verschweizerung ist nicht aufzuhalten.) Aber hätte die liebe WOZ sonst je davon erfahren, dass ich von ihr träume? In der Nacht zuvor hatte ich von meiner Mutter selig geträumt, die irgendetwas furchtbar Irritierendes sagte und/oder tat, und ich schrie: «Aufhören, aufhören!», und meine Frau rüttelte mich wach, und ich musste ihr beim Kaffee versichern, dass ich nicht traumatisiert sei, und wäre dies eine Kolumne von Max Goldt, sie trüge vielleicht den Titel: «Ich träume lieber von der Zeitung als von meiner Mutter».

Man kann übrigens genauso gut «ins Obergoms» wie «nach Obergoms» fahren, und die Schweiz ist bestimmt das einzige Land, in dem zwischen Orten, die Haslital und Obergoms heissen, Megaprojekte entstehen. Falls sie denn entstehen, denn: «Das Projekt überzeugt so nicht», wie Armin Müller vom «Tages-Anzeiger» zu einem wunderbar schweizerischen Fazit gelangte. Abermals denn: «Megaprojekte scheitern, wenn alle Beteiligten ein Interesse haben, das Projekt auf dem Papier gut aussehen zu lassen: Die Nutzenschätzungen scheinen von Wunschdenken geprägt, die Kostenschätzungen stützen sich auf Angaben von Unternehmen, die vom Bau profitieren. Und die Kosten fallen vorwiegend beim Bund an, der Nutzen bei den Kantonen.»

Also doch kein Megatunnel vom Berner Haslital ins Walliser Obergoms? Aber ich habe gut reden/lachen, denn wenn ich in die Schweiz fahre, dann bloss in Metropolen wie Basel oder Winterthur. Das ganze Wochenende hindurch hat mich die Frage gequält, ob ich im Frühsommer erst nach Basel und dann nach Winterthur oder erst nach Winterthur und dann nach Basel fahren soll. Das Alphabet, entdecke ich eben, spricht für die erste Variante, aber dann wäre ich bei Freund M. nur auf der Durchreise, was mir ein bisschen herablassend vorkommt. Andersherum könnte ich nach dem Fest von Freund R. nicht gleich nach Hause fahren, was nach einem Fest mitunter günstig ist. Ein Dilemma, bei dem auch die Preispolitik von Deutscher und Schweizer Bahn nicht ernstlich weiterhilft, und immerhin kann ich jetzt «Super Sparpreis Europa» genauso flüssig hinschreiben wie «Obergoms».

Wo jetzt vielleicht Leute sitzen und grimmig denken: «Was schwätzt der von Dilemma? Wenn ich ins Haslital will, muss ich mich über die Grimselpassstrasse quälen, und auch wenn ich Megaprojekte vielleicht ablehne, weil sich die Bauindustrie bloss eine goldene Nase verdient, fände ich eine Grimselbahn angesichts der engen und ja auch nicht ungefährlichen Grimselpassstrasse doch eigentlich ganz gut!» Auch hier dominieren also, wie der «Tagi» treffend schreibt, «Wunschdenken und Interessenkonflikte», denn das ist natürlich im ganzen Leben so. Ich nehme an, der Traum, in dem meine Mutter vorkam, verklausulierte auch bloss den Konflikt zwischen ihrem Wunschdenken und dem, was bloss auf dem Papier gut aussah. Würde ich, wie Christian Kracht, einen Roman darüber schreiben, wie ich mit meiner Mutter und unseren Interessenkonflikten im Auto verreise, dann führen wir über die Grimselpassstrasse an den Grimselsee. Kommentar Suhrkamp: «Das Projekt überzeugt so nicht.»

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.

«Tote und Tattoo», eine Sammlung von Stefan Gärtners Essays und Glossen für verschiedene Zeitungen, ist im WOZ-Shop erhältlich: www.woz.ch/shop.