Klimaseniorinnen: Voller Zuversicht nach Strassburg

Nr. 12 –

Sie haben es weit gebracht: Nächste Woche wird am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte das Anliegen der Klimaseniorinnen verhandelt. Angeklagt ist die Schweiz – und Mitklägerin Pia Hollenstein ist zuversichtlich, das Land damit endlich zum Handeln zu bewegen.

Klimaseniorin Pia Hollenstein
«Wir wollen doch nicht untergehen. Oder?»: Klimaseniorin Pia Hollenstein.

Nervös sei sie nicht, sagt Pia Hollenstein, vielmehr freue sie sich auf die nächste Woche. «Das wird eine grosse Sache in Strassburg», sagt die 72-Jährige beim Treffen im Migros-Restaurant im Bahnhof St. Gallen. Hollenstein ist Vorstandsmitglied des Vereins Klimaseniorinnen, sie hat ihn vor bald sieben Jahren mitgegründet. Und nun folgt mit der bevorstehenden Anhörung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) «ein vorläufiger Höhepunkt» für den Verein, wie sie es nennt. «In der Schweiz haben wir bisher zwar vor allen Instanzen verloren», sagt Hollenstein, «aber schlussendlich ist das Ganze eben doch eine Erfolgsgeschichte.»

Wegweisende Anhörung

Als die Klimaseniorinnen 2016 zusammenfanden, war dies das Resultat einer gezielten Kampagne von Greenpeace Schweiz. Es ging darum, eine Gruppe engagierter Frauen aus allen Landesteilen zusammenzubringen, die Druck auf den Bundesrat aufbaut – damit dieser auch tatsächlich umsetzt, was er mit der Unterschrift unter das Pariser Klimaabkommen versprochen hatte. Die Schweiz soll ihren anteilsmässigen Beitrag leisten, um den globalen Temperaturanstieg auf 1,5 Grad zu begrenzen, und zwar zügig. Die Klimaseniorinnen argumentieren dabei als Direktbetroffene: Unter den häufiger und intensiver werdenden Wetterextremen haben ältere Menschen in besonderem Ausmass zu leiden – vor allem unter den Hitzewellen, die auch in der Schweiz zunehmend eintreten. Und gemäss diversen Studien sind Frauen davon noch stärker betroffen als Männer, was sich etwa in einer höheren Sterblichkeit während Hitzesommern niederschlägt. Demgegenüber hat die Schweiz vergleichsweise bescheidene Ambitionen bei der Senkung der Treibhausgasemissionen bis 2030.

Zunächst wurden die Klimaseniorinnen beim Bundesdepartement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek) sowie bei dessen Bundesämtern vorstellig; sie forderten, dass der Bundesrat mehr für das Erreichen der Pariser Klimaziele unternehme. Nachdem ihr Rechtsbegehren dort abgelehnt wurde, gelangten sie ans Bundesverwaltungsgericht, dann ans Bundesgericht – wo die Klage der Klimaseniorinnen erneut abgewiesen wurde. Erst dann folgte der erste Erfolg: Der EGMR, wo täglich Hunderte Einsendungen eingehen, von denen nur ein Bruchteil zugelassen wird, entschied, den Fall prioritär zu behandeln.

Über 2000 Mitglieder hat der Verein Klimaseniorinnen mittlerweile, allesamt Frauen im Pensionsalter in der Schweiz, und Dutzende von ihnen werden nächste Woche gemeinsam die Reise nach Strassburg antreten, um dort die Anhörung zu verfolgen. Ebenfalls erwartet werden viele Medienleute, und zwar bereits auf der Anreise. Das Interesse an den Klimaseniorinnen ist auch ausserhalb der Landesgrenzen gross; fast grösser als in der Schweiz, hat Pia Hollenstein den Eindruck. Sie habe zuletzt mehrere Interviews in ausländischen Zeitungen gegeben, «und das ist auch das Einzige, was mich vielleicht doch etwas nervös macht: In Strassburg werde ich auch auf Englisch Rede und Antwort stehen müssen», so Hollenstein.

Dass der Fall «Verein Klimaseniorinnen Schweiz and Others v. Switzerland» international ein solch grosses Echo auslöst, ist einerseits natürlich auf die intensive Medien- und Vernetzungsarbeit zurückzuführen, die Greenpeace länderübergreifend macht. Es liegt aber andererseits auch an der übergeordneten Tragweite des Falls, für die allein schon die Tatsache spricht, dass er in der Grossen Kammer des EGMR behandelt wird. Das Urteil, das kaum vor Jahresende zu erwarten ist, dürfte als eine Art Leiturteil ausgelegt werden. «Wir haben schon so viel gewonnen», sagt deshalb Pia Hollenstein, «nicht nur Aufmerksamkeit.»

Die Tragik der Politik

Es ist eine erfrischende Zuversicht, die Pia Hollenstein, ehemalige Nationalrätin, gemeinsam mit ihren Mitstreiterinnen ausstrahlt. Und das in einer Angelegenheit, die sich ja eigentlich laufend düsterer präsentiert. Das rief zum Wochenbeginn der jüngste Bericht des Weltklimarats einmal mehr in Erinnerung. Es ist der Synthesebericht zum nun abgeschlossenen sechsten Bewertungszyklus; Tausende Klimawissenschaftler:innen haben acht Jahre lang in unzähligen Studien dazu beigetragen, und am Ende bleibt doch eine simple, eindringliche Botschaft: Es muss jetzt gehandelt werden, sonst ist es zu spät. Noch ist nicht ausgeschlossen, dass sich das 1,5-Grad-Ziel erreichen lässt – aber es ist bereits ziemlich unwahrscheinlich, und noch in diesem Jahrzehnt wird die Entscheidung fallen. Oder anders gesagt: Wenn 2030 der nächste Synthesebericht des Weltklimarats erscheint, könnte der existenzbedrohende Klimaschaden bereits irreversibel angerichtet sein. «Verzögerung heisst Tod», sagte Uno-Generalsekretär António Guterres am Montag mit der von ihm gewohnten Dringlichkeit, von der zu befürchten ist, dass sie sich bereits schon abgenutzt haben könnte.

«Ich verstehe einfach nicht, wie man weiterhin tatenlos bleiben kann», sagt Hollenstein am Tag nach der Veröffentlichung des Berichts. Und sie regt sich darüber auf, wie der ultimativ alarmierende Bericht des Weltklimarats zur medialen Randnotiz geworden sei, weil gerade eine Grossbank mit Milliarden habe gerettet werden müssen, die mit ihren fossilen Investitionen die Klimaerhitzung seit Jahren aktiv befeuere. «Wir haben das Faktenwissen auf dem Tisch, aber die Politik bleibt einfach still», so Hollenstein. «Wir wollen doch nicht untergehen. Oder?»

Auch sie war für die Grünen einst Teil der Politik, Ende der achtziger Jahre zunächst als Stadtparlamentarierin in St. Gallen und ab 1991 dann fünfzehn Jahre lang als Nationalrätin in Bern. Dort war sie unter anderem Mitglied in der Sicherheitspolitischen und der Verkehrskommission. Sie sei für ihr einfaches und prägnantes Programm bekannt gewesen: «Keine Armee, keine Strassen», habe dieses gelautet, so Hollenstein. Sie sagt das nicht ohne Stolz, denn wenn sie heute auf ihre Zeit als Politikerin zurückblicke, fühle sie sich in ihrer Haltung bestätigt. «Aber es war natürlich klar: Für diese Positionen wirst du im bürgerlichen Parlament niemals eine Mehrheit schaffen.» Darin liege «die Tragik», wie Hollenstein erklärt: Es habe mal eine Zeit gegeben, in der sich auch Politiker:innen von FDP und CVP für eine sinnvolle Klimapolitik eingesetzt hätten, weil allen klar gewesen sei, dass die Welt auf eine Katastrophe zusteuere, wenn nicht bald die Treibhausgasemissionen gesenkt würden. Aber schon in den Neunzigern, als sie im Nationalrat angefangen habe, sei diesbezüglich kaum mehr etwas zu erreichen gewesen.

Recht auf Leben

In der Politik gehe es aber nicht nur darum, die Bürgerlichen zu überzeugen, sagt Pia Hollenstein, denn oft sei das unmöglich. Manche Dinge müssten einfach der Sache wegen gesagt werden, die Fakten müssten auf den Tisch, «zuhanden der Geschichte». Eines Tages zahle sich das aus. Die Politik, der Hollenstein 2006 den Rücken kehrte, und den Rechtsweg, den sie mittlerweile beschritten hat, will sie denn auch nicht gegeneinander ausspielen – schon gar nicht in einem Jahr, in dem die Schweiz über das wegweisende Klimaschutzgesetz abstimmen wird. «Es braucht weiterhin beides», betont die 72-Jährige, «und zwar als Teil einer globalisierten Gesellschaft, in der wir unsere Verantwortung wahrnehmen müssen.»

In Strassburg wird sich die Schweiz nun gegen den Vorwurf verteidigen müssen, mit ihrem viel zu zögerlichen Handeln beim Klimaschutz Menschenrechte zu verletzen: Sie nehme gegenüber den Klimaseniorinnen ihre Pflicht nicht wahr, unter anderem deren Recht auf Leben zu schützen. «Ich bin zuversichtlich, dass der EGMR uns – mindestens teilweise – recht gibt», sagt Pia Hollenstein, «und dann wird der Bundesrat nicht länger darum herumkommen, echte Klimamassnahmen zu ergreifen – und diese endlich als Chance zu begreifen.»

Es wäre nicht zuletzt auch eine gewisse Genugtuung für die vielen engagierten Frauen, die sich von der «NZZ am Sonntag» auch schon als eine von Greenpeace instrumentalisierte «Grosi-Truppe» diffamieren lassen mussten. Wirklich getroffen hat sie die Darstellung damals nicht; man habe immer transparent kommuniziert, wie man mit Greenpeace zusammenarbeite und dass man von der NGO auch finanzielle Unterstützung erhalte. «So müssen wir keine Mitgliederbeiträge verlangen», sagt Pia Hollenstein. Und fügt an, dass man übrigens weiterhin Mitklägerin werden könne.