Klimapolitik: Realitätsverweigerung
Der Ständerat ignoriert mit seiner Erklärung zum EGMR-Urteil, dass einschneidende Klimamassnahmen zwingend und dringend sind.
Allein in den letzten Wochen kam es rund um den Globus zu Überschwemmungen und Hitzewellen mit Hunderten von Toten und Hunderttausenden von Evakuierten. Renommierte Klimawissenschaftler:innen diskutieren inzwischen mit grosser Besorgnis, ob möglicherweise schon im nächsten Jahrzehnt aufgrund der Erhitzung der Meere der so entscheidende Golfstrom zum Erliegen kommen könnte. Doch was macht am Mittwochmorgen der Ständerat? Er verabschiedet eine Erklärung, die im Kern darauf abzielt, ein wegweisendes Klimaurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) für nichtig zu erklären. Damit missachtet die kleine Kammer des Schweizer Parlaments nicht nur den rechtsstaatlich zentralen Grundsatz der Gewaltenteilung, sie stellt auch die Klimapolitik der Schweiz viel ambitionierter dar, als sie tatsächlich ist – und verharmlost die Klimakrise.
Am 9. April hatte der EGMR aufgrund einer Klage des Vereins Klimaseniorinnen den Schweizer Staat gerügt, dass sein Anteil an den globalen Anstrengungen zur Begrenzung der Erderhitzung auf 1,5 Grad zu gering sei. Er trage dadurch dazu bei, dass grundlegende Menschenrechte verletzt würden. Es gebe eine Pflicht der Staaten, die menschliche Gesundheit und das Leben zu schützen.
Das Strassburger Verdikt ist ein Leiturteil: Es betrifft nicht nur die Schweiz, sondern nimmt alle 46 Vertragsstaaten der Europäischen Menschrechtskonvention in die Pflicht. So gesehen verwundert es auch nicht, dass es weltweit zur Kenntnis genommen wurde.
Der Ständerat will diese Rüge nicht hinnehmen. In seiner Erklärung, die er am Mittwoch mit 31 zu 11 Stimmen verabschiedet hat, fordert er den Bundesrat faktisch dazu auf, das Urteil zu ignorieren. Die Schweiz tue bereits genug für den Klimaschutz. In der dreistündigen Debatte zeigte sich, dass viele Ständerät:innen das Strassburger Urteil primär als Anmassung auffassen. Vereinen und NGOs würden Tür und Tor für weitere Gerichtsklagen geöffnet.
Die Richter:innen in Strassburg hatten argumentiert, es genüge nicht, dass die Schweiz bei ihren Klimamassnahmen nur langfristige Ziele deklariere. Es brauche einen klaren Absenkpfad. Ausserdem sei ein CO₂-Budget oder eine andere Quantifizierung nötig, um klar festzuhalten, wie viel Treibhausgase die Schweiz insgesamt noch ausstossen könne. Die Klimaseniorinnen gingen bei ihrer Klage von einem globalen Restbudget an CO₂ aus, das noch ausgestossen werden darf, will man das 1,5-Grad-Ziel einhalten. Wird dieses Budget gleichmässig auf alle Bewohner:innen der Erde verteilt, hätte die Schweiz mit ihren Reduktionszielen ihr Volumen bereits 2034 ausgeschöpft. Im Kern geht es bei der Klage also darum, dass die Schweiz substanziellere Klimaschutzmassnahmen beschliesst, die global gesehen fair sind.
Angesichts des Urteils und der aktuellen Klimakrise wäre von Volksvertreter:innen also eine ganz andere Erklärung zu erwarten: eine Ansprache an die Bevölkerung, dass die bisher getroffenen Klimamassnahmen nicht ausreichend waren, dass wir am Rand einer globalen Katastrophe stehen und es jetzt, weil so lange zugewartet wurde, tiefgreifende gesellschaftliche und ökonomische Veränderungen braucht. Und dass die Schweiz bis heute pro Kopf weit mehr Treibhausgase ausgestossen hat als viele andere Länder, vor allem im Süden, und sie deshalb diese Länder finanziell entschädigen muss – damit diese selber wirksame Klimamassnahmen ergreifen und sich an das bereits veränderte Klima anpassen können.
Entscheidungen in diesem Jahrzehnt haben Auswirkungen für Tausende von Jahren. Das ist keine «Klimahysterie», sondern mehr oder weniger Konsens der verschiedenen Berichte des Weltklimarats. Nicht nur der Entscheid des Ständerats lässt befürchten, dass viele in der Schweizer Politik das überhaupt nicht kapiert haben. Auch dass der Ständerat am Montag das Militärbudget um vier Milliarden Franken angehoben hat und gleichzeitig die Gelder für Entwicklungszusammenarbeit um zwei Milliarden kürzen will, zeigt klar, was die bürgerliche Mehrheit im Sinn hat: sich einigeln und die Klimakrise weiterhin verharmlosen und verdrängen.