Sachbuch: Die Nazis und der «Einzeltäter»
Uwe Soukup widerlegt eine genauso langlebige wie zwielichtige Legende über den Berliner Reichstagsbrand 1933.
Vor neunzig Jahren, im März 1933, verhafteten SA und SS Tausende Kommunist:innen im ganzen Deutschen Reich, misshandelten und folterten sie in improvisierten Konzentrationslagern – ein entscheidender Schritt bei der Etablierung der nationalsozialistischen Diktatur. Auslöser für die bis dahin beispiellose Welle des Staatsterrors war der Brand des Berliner Reichstags in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar, vier Wochen nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler. Am Tatort festgenommen wurde der 24-jährige niederländische Rätekommunist Marinus van der Lubbe.
Von «drei Theorien zu den Hintergründen des Brandes» liest man bei Wikipedia. Auch die Bundeszentrale für politische Bildung legt sich nicht fest: «Bis heute bleibt die Frage, wer für den Brand im Reichstag 1933 verantwortlich ist, umstritten.» Weil das so ist, geht auch die Diskussion darüber weiter. Der Journalist Uwe Soukup hat jetzt auf 200 Seiten den heutigen Erkenntnisstand zusammengefasst. Was in der Brandnacht im Berliner Reichstag genau geschah, lässt sich nicht mit Sicherheit rekonstruieren, geschweige denn beweisen. Soukup gesteht das auch ein. In einem wesentlichen Punkt allerdings legt er sich fest: Die immer noch durch die Geschichtswissenschaft und die Medien geisternde Einzeltäterthese kann nicht stimmen.
Schauprozess mit Todesurteil
Das steht im Grunde schon seit Dezember 1933 fest, als van der Lubbe in einem Schauprozess zum Tod verurteilt wurde. Gegen die Tat eines Einzelnen sprachen die vielen, wahllos verteilten Brandherde. Vor allem war der verheerende Brand im Plenarsaal ohne die Verwendung von Brandbeschleunigern nicht möglich – es sei denn, der Saal wäre vorher mit selbstentzündlichen Mitteln präpariert worden. Spuren davon liessen sich auch tatsächlich nachweisen. Van der Lubbe dagegen hatte nur einige Kohleanzünder bei sich und viel zu wenig Zeit, um damit grösseren Schaden anzurichten.
Diese eindeutigen kriminaltechnischen Befunde der 1933 auftretenden Gerichtsgutachter erläutert Soukup gut nachvollziehbar. Kurz fasst er das «Debakel» zusammen, das die Nazis vor Gericht erlebten: Ihr Versuch, «die Kommunisten», darunter den Bulgaren Georgi Dimitroff, für die Brandstiftung verantwortlich zu machen, scheiterte kläglich. Dass van der Lubbe, der Hauptangeklagte, meist verwirrt wirkte, erklärt der Autor mit Drogen, die ihm verabreicht wurden. Erst im Januar 1934, im Angesicht des Fallbeils, soll der Verurteilte den Ernst seiner Lage erkannt haben.
Besonders wichtig ist Soukup die Kontroverse, die nach dem Brand einsetzte, in der Willi Münzenberg und andere deutsche Kommunist:innen im Exil mit ihrem «Braunbuch» einen Bestseller landeten. Darin bezichtigten sie die Nazis als Täter, schreckten aber auch nicht davor zurück, van der Lubbe als «homosexuellen Lustknaben» und «Nazi-Provokateur» zu verleumden. Wenig später antworteten niederländische Rätekommunist:innen mit einem «Rotbuch», in dem sie ihren Genossen in Schutz nahmen. Dieser habe ein Fanal für den Aufstand setzen wollen.
Revisionistische Thesen
Während «Braunbuch» und «Rotbuch» heute allenfalls als Zeitdokumente interessant sind, die Soukup nur kurz abhandelt, widmet er sich ausführlich der nach 1945 in der BRD öffentlich geführten Diskussion. Damals, schreibt er, «ging die allgemeine Annahme – und geht bis heute – in die Richtung, dass die Nazis den Reichstag selbst angezündet hatten». Das änderte sich 1959, als der Verfassungsschutzagent und Hobbyhistoriker Fritz Tobias mit einer elfteiligen Serie im «Spiegel», unterstützt von dessen langjährigem Herausgeber Rudolf Augstein, die Einzeltäterthese in die Welt setzte. Erklärtes Ziel der Serie war es, «kommunistischer Propaganda» entgegenzutreten. Welche Mittel Tobias dabei verwendete, zeigt Soukup auch: Mit «Drohung und Erpressung» sei es ihm 1964 gelungen, vom Münchner Institut für Zeitgeschichte, namentlich dem Historiker Hans Mommsen, eine Art Gütesiegel für seine Thesen zu bekommen, die er 1962 in seinem Buch «Der Reichstagsbrand. Legende und Wirklichkeit» noch einmal veröffentlicht hatte.
Seitdem gelten diese zumindest auch in der Wissenschaft als diskussionswürdig. Das hat Folgen für das Verständnis, wie die Etablierung der NS-Diktatur vonstattenging. Denn wenn die Nazis durch ein Ereignis, mit dem sie nichts zu tun hatten, überrascht wurden, dann hätte die darauf folgende brutale Repression auf dem Missverständnis beruht, man sei mit einem drohenden kommunistischen Aufstand konfrontiert. Soukup zitiert Mommsen: Hitler sei in der Brandnacht «abrupt in eine Phase totalitärer Experimente» eingetreten.
Eine Überreaktion aus Angst? Ähnlich hatte der Geschichtsrevisionist Ernst Nolte im bundesdeutschen «Historikerstreit» von 1986 den Entschluss zum Völkermord an den europäischen Jüd:innen zu erklären versucht. Seine Thesen gelten – jenseits des Lagers der Holocaustrelativierer:innen – längst als indiskutabel. Anders verhält es sich mit der von Tobias, Mommsen und ihren medialen Multiplikator:innen vertretenen Einzeltäterthese. Sie endgültig ad acta zu legen, ist überfällig. Uwe Soukup leistet mit seinem Buch dazu einen wertvollen Beitrag.
Uwe Soukup: «Die Brandstiftung. Mythos Reichstagsbrand – was in der Nacht geschah, in der die Demokratie unterging». Heyne Verlag. München 2023. 208 Seiten. 35 Franken.