Hitler-attentäter Bavaud: Alles andere als verwirrt

Nr. 46 –

Der Schweizer Maurice Bavaud wollte Hitler töten. Lange wurde er als Verrückter diffamiert. Ein Münchner Historiker belegt nun die christliche Grundlage des misslungenen Attentats.

Die Münchner Innenstadt liegt am letzten Samstagabend im Leuchtreklamenlicht, die PassantInnen eilen mit ihren Einkäufen an der Heilig-Geist-Kirche vorbei, als wäre nichts geschehen. Und tatsächlich ist hier, wo die Strasse auf der Längsseite der Kirche schmal ist, leider nichts geschehen am 9. November 1938: Maurice Bavaud, ein 22-Jähriger aus Neuenburg, hatte sich zwar ein Ticket für die Ehrentribüne ergattert. Doch dann reckten sich die Arme um ihn herum zum Hitlergruss, ein Schuss auf den Diktator, der auf einem Propagandamarsch an der Kirche vorbeikam, war für Bavaud unmöglich.

75 Jahre nach dem gescheiterten Attentatsversuch betritt ein alter Mann mit Hut die Heilig-Geist-Kirche. Adrien Bavaud, der jüngste Bruder, will den Abschiedsbrief von Maurice vorlesen. Die Gläubigen, die sich in der Kirche zum Rosenkranz versammelt haben, murren erst, dass sie ihr Gebet wegen des alten Mannes verschieben müssen. Doch bald bemerken auch sie die religiöse Botschaft des Briefs. In der Nacht vor seiner Hinrichtung am 14. Mai 1941 hatte Maurice Bavaud in der Strafanstalt Berlin-Plötzensee geschrieben: «Mein Herz hat während meines kurzen Lebens keinen dauerhaften Hass verspürt. Ich sterbe nicht stoisch, sondern christlich.»

Die Nacht nach dem missglückten Attentat ging als Reichspogromnacht in die Geschichte ein, die Nazis zündeten die Synagogen an. Zweimal hatte Maurice Bavaud danach vergeblich versucht, sich Hitler noch einmal zu nähern, auf dessen Berghof in Berchtesgaden und in der NSDAP-Parteizentrale in München, ehe er im Zug nach Paris in einer Fahrkartenkontrolle hängenblieb und der Gestapo übergeben wurde. Die Schweizer Botschaft in Berlin rührte nach der Verhaftung keinen Finger für Bavaud, vielmehr bezeichnete der Gesandte Hans Frölicher die Tat in einem Schreiben nach Bern als «verabscheuungswürdig».

Zürcher Strassenstreit

Der Gedenktag für Maurice Bavaud, der erste seiner Art in München, beginnt im Lichthof der Universität, auch dies ein Erinnerungsort, wurden hier doch die Mitglieder der Weissen Rose beim Verteilen von Flugblättern verhaftet. «Bavaud soll als vollwertiges Mitglied des Widerstandes und klarsichtiger Kämpfer für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte geehrt werden», sagt der Münchner Historiker Martin Steinacher zur Einleitung. Er präsentiert seine Forschungsarbeit, die in der Rezeption des Hitler-Attentäters ein neues Kapitel aufschlägt. Steinacher zeigt darin schlüssig, dass Bavaud bei seinem Attentatsversuch christlichen Motiven gefolgt ist.

Rückblickend erscheint der Umstand entscheidender, dass Bavaud in der Tat versuchte, Hitler zu erschiessen, als die Frage, was seine Motive waren. Doch seit der Historiker Klaus Urner Ende der siebziger Jahre Bavaud als psychotisch und fremdgesteuert beschrieben hat, ist die Wahrnehmung auf den Hitler-Attentäter verstellt. Im Gegensatz zu Urner haben Niklaus Meienberg, Villi Hermann und Walter Stürm in ihrem Film «Es ist kalt in Brandenburg» und im gleichnamigen Buch Bavaud als suchenden Einzeltäter beschrieben. Neue Aktenfunde von WOZ-Redaktor Stefan Keller stützten später diese These, und vor fünf Jahren hat der Bundesrat offiziell Maurice Bavaud gewürdigt. Doch das Bild des verwirrten Zöglings geistert noch immer durch Forschung und Politik.

In der kürzlich von Paul Widmer veröffentlichten Biografie über den Gesandten Hans Frölicher beispielsweise «irrt» Bavaud durch Deutschland, und entsprechend fällt später «das Henkersbeil auf einen einsamen und verlassenen Maurice Bavaud, den seltsamsten, aber auch den bedürftigsten aller Schweizer Insassen in deutschen Todeszellen.» Und wie diesen Sommer bekannt wurde, will die Strassenbenennungskommission der Stadt Zürich keinen Platz nach Maurice Bavaud benennen. «Die hochemotionale Diskussion um Bavauds Motive zeigt, dass die Fakten für eine objektive Beurteilung nicht vorliegen oder nicht genügend erforscht sind», heisst es dazu im Geschäftsbericht.

Glaube als Motiv

Bei der Gerichtsverhandlung nannte Bavaud gemäss den Protokollen des Volksgerichtshofs als Gründe für die Tat: Die Gefahr Hitlers für die Menschheit und die Unabhängigkeit der Schweiz, vor allem aber die Unterdrückung der Kirche. Er habe der «Menschheit und der gesamten Christenheit» einen Dienst erweisen wollen. Diente die Aussage den Nazis als Rechtfertigung oder lässt sie sich aus Bavauds Biografie herleiten? Das ist die Forschungsfrage von Steinacher.

In einem ersten Schritt bettet er Bavauds Handeln, und das ist das Neue an seiner Arbeit, in die Diskussion der katholischen Kirche über Anpassung und Widerstand zum Naziregime ein, die in die 1937 veröffentlichte Enzyklika «Mit brennender Sorge» mündete. Als Missionarsschüler kannte Bavaud die Argumente des päpstlichen Rundschreibens, wonach es für jeden bekennenden Christen Pflicht sei, «sein Gewissen von jeder schuldhaften Mitwirkung an Verhängnis und Verderbnis freizuhalten». Durch seine philosophische Lektüre war Bavaud ausserdem bekannt, dass die Legitimation des Tyrannenmords in der katholischen Theologie zumindest offenbleibt.

In all seinen Verhaltensweisen rund um das Attentat sei der Glaube als «motivstiftende Maxime seines Handelns evident», stellt Steinacher fest. So auch in den Selbstzweifeln, die Bavaud in seinen Briefen beschlichen, ob nämlich seine Aktion von Gott legitimiert sei. Die Irritation über das mehrmalige Scheitern liess ihn, der sich stets als Nazisympathisant tarnte, unvorsichtig werden.

In einem zweiten Schritt räumt Steinacher mit der These der wahnhaften Verschwörung auf, nach der Bavaud von seinem Studienkollegen Marcel Gerbohay angestiftet wurde. Gegen eine «Folie à deux», eine gemeinsame psychotische Störung, die Klaus Urner diagnostiziert, sprechen ein psychiatrisches Gutachten, das bereits Meienberg publizierte, ebenso die späteren Auskünfte von Familienangehörigen und Mitstudenten. Ein neues und «kaum zu entkräftendes Indiz für Bauvauds Alleintäterschaft» ist für Steinacher, dass die Gestapo den Häftling nach seinem Geständnis in «einfache Polizeihaft» entliess. «Die stets nach Verschwörungen gierende Gestapo hätte ansonsten ein komplett anderes Verhalten an den Tag gelegt.»

Steinachers Schlussfolgerung: «Bavaud handelte aus eigenem Antrieb und aus seiner tiefsten Überzeugung, die einmal erkannte Gefahr unter allen Umständen bannen zu müssen.»

Geografie des Widerstands

Im Lichthof der Universität sprach am Gedenktag auch der St. Galler SP-Ständerat Paul Rechsteiner. Auf der Reise aus der Schweiz nach München werde eine «Geografie des Widerstandes» erfahrbar, die der «Geografie des Schreckens» entgegenstehe. «Die Tat von Maurice Bavaud und jene von Georg Elser exakt ein Jahr später ragen unter den gescheiterten Attentaten gegen Hitler heraus.» Die beiden Einzeltäter aus einfachen Verhältnissen hätten nicht erst gegen das Kriegsende gehandelt wie die Offiziersverschwörer um Graf von Stauffenberg vom 20. Juli 1944. «Wäre das Attentat von Maurice Bavaud gelungen, so hätte es eine weltgeschichtliche Dimension. Aber auch so bleibt seine Bedeutung gross, als ernsthafter Versuch, der mörderischen Entwicklung Einhalt zu gebieten, die sich vor den Augen aller abzeichnete.»

Rechsteiner kam auch auf die anhaltende Verdrängung von Bavaud in der Schweizer Geschichtsschreibung zu sprechen. «Was für Mechanismen sind am Werk, wenn eine Tat, welche Europa vor einer nie dagewesenen tödlichen Bedrohung befreit hätte, nicht anders motiviert sein kann als durch Wahnvorstellungen? Und der Wahnsinn statt bei Hitler und dem Nazisystem am Hitler-Attentäter festgemacht wird?»

Die Geschichtsschreibung zu Bavaud, ob in internationaler Perspektive zum Widerstand oder zur Schweizer Verdrängung der Vergangenheit, dürfte also weiter anhalten. Zu vermuten ist, dass einer wie Bavaud pathologisiert wurde, weil nicht sein durfte, dass ein einfacher junger Mann seinen Handlungsspielraum nutzte. Dann hätte ja auch das Establishment Mut haben können.

Der grüne Zürcher Gemeinderat Simon Kälin, ebenfalls in München zu Gast, sieht seine Forderung nach einem Maurice-Bavaud-Platz durch die neuen Forschungsergebnisse bestärkt: «Damit es öffentlichen Druck gibt, ist auch eine Petition denkbar.»

Steinacher übrigens ist zufällig über Bavaud gestolpert. Aufgewachsen im ländlichen Allgäu, in einer katholischen Familie, wollte er über bayrische Kirchengeschichte promovieren und suchte dringend ein Thema. Da las er vom versuchten Attentat von Bavaud neben der Heilig-Geist-Kirche. Offenbar hat ein Katholik den anderen verstanden.