Israel: Das Land erlebt Tage am Abgrund

Nr. 13 –

Nach riesigen Protesten und einem Generalstreik verschiebt Benjamin Netanjahu seine Justizreform. Die bedrohliche Spaltung der Gesellschaft zwischen religiösen und liberalen Kräften vermag das nicht zu kitten.

Israel hat dramatische Stunden hinter sich. Auslöser der Entwicklung: Am Sonntagabend feuerte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu seinen Parteikollegen, Verteidigungsminister Joaw Galant. Dieser hatte am Vorabend in einer öffentlichen Ansprache die eigene Regierung dazu aufgerufen, die umstrittene Justizreform nicht ohne Dialog mit den Gegner:innen zu verabschieden. Das geplante Gesetz soll den Einfluss der Regierung auf die Justiz erhöhen, etwa bei der Aufhebung von Gesetzen oder bei der Ernennung der Obersten Richter. Er begründete seinen Appell mit Sicherheitsrisiken: Feindlich gesinnte Länder, so warnte er, könnten die innenpolitische Krise ausnutzen, um Israel anzugreifen.

Wenig später befand sich das Land im Ausnahmezustand. In Tel Aviv brannten Barrikaden auf der Autobahn, in Jerusalem durchbrachen Demonstrant:innen Polizeisperren vor der Residenz von Netanjahu. Es waren die vielleicht grössten Proteste in der Geschichte des Landes – und das mitten in der Nacht. Am Montagmorgen rief der Chef der Dachorganisation der Gewerkschaften einen Generalstreik aus und legte damit das Land lahm. Die Proteste hielten an und erreichten ihren Höhepunkt vor der Knesset in Jerusalem.

Eine Fernsehansprache Netanjahus, ursprünglich für den Vormittag geplant, wurde immer wieder verschoben. Erst am Abend trat er vor die Kameras. «Wenn es eine Möglichkeit gibt, einen Bürgerkrieg durch Dialog zu vermeiden, nehme ich als Ministerpräsident eine Auszeit für den Dialog», sagte er.

Eine Miliz zum Dank

Die Erleichterung währte nur kurz. Rasch wurde den meisten Gegner:innen der Reform klar: Netanjahu, mit dem Rücken zur Wand, hatte für diesen Aufschub keine andere Wahl. Nicht nur wegen der Massenproteste. Netanjahu wartet weiterhin auf eine Einladung des US-Präsidenten ins Weisse Haus, für einen neuen Regierungschef ist eine prompte Einladung eigentlich die Regel.

Ökonomischer Druck und die Tatsache, dass zahlreiche Reservesoldat:innen in den vergangenen Wochen den Dienst verweigerten, taten das Übrige. Doch am Ende, so glauben die meisten der Regierungskritiker:innen, wollen Netanjahu und vor allem dessen Koalitionspartner die Reform nur aufschieben und die Protestbewegung schwächen. Um dann in einem Monat wieder ans Werk zu gehen.

Seinem Partner Itamar Ben-Gvir, Minister für Nationale Sicherheit, bezahlte Netanjahu die Unterstützung in einer besonderen Währung: Er versprach dem rechtsextremen und strafrechtlich verurteilten Politiker eine eigene Nationalgarde. Die israelische Menschenrechtsorganisation Association for Civil Rights in Israel warnte vor einer «privaten, bewaffneten Miliz, die direkt unter Ben-Gvirs Kontrolle» stünde. Im Verlauf des Abends griffen in Jerusalem rechte Aktivist:innen Gegner:innen der Reform, Araber:innen und Journalist:innen an.

Die andere Seite soll verschwinden

Seit Dienstag verhandeln nun Opposition und Regierung in der Residenz des Präsidenten über einen möglichen Kompromiss. Vielleicht wäre richtiger zu sagen: über einen unmöglichen Kompromiss. Denn dass ein Kompormiss nicht in Sicht ist, davon sind die meisten Menschen im Land überzeugt.

Die Lager stehen sich diametral gegenüber. Die einen wollen einen messianischen Staat und ein Grossisrael. Kein weltlicher Oberster Gerichtshof soll ihnen dazwischenfunken. Die anderen stehen für ein säkulares und liberales Israel, wo auch immer sie sich politisch verorten, von links bis rechts. Kurzum: Jede Seite wünscht sich, die andere möge verschwinden.

«Die Proteste und die jüngsten Ereignisse zeigen, dass die Liberalen nicht bereit sind, ein autoritäres, theokratisches Regime zu akzeptieren», sagt Ofri Ilany, Historiker am Jerusalemer Van-Leer-Institut und Kolumnist der israelischen Tageszeitung «Haaretz». Unmittelbar nach den Wahlen habe das Gefühl vorgeherrscht, die Menschen würden diese Entwicklung einfach hinnehmen oder das Land verlassen. «Es hat sich herausgestellt, dass es so einfach nicht ist. Die liberale Bevölkerung ist mächtig, nicht zuletzt in wirtschaftlicher Hinsicht. Und sie hat noch immer eine Menge Macht in den Eliteeinheiten der Armee.»

Erstmals seit langem hätte gemäss Umfragen ein Mitte-Links-Bündnis wieder eine Mehrheit, auch ohne Beteiligung der mehrheitlich arabischen Parteien. Netanjahus Likud-Partei hingegen befindet sich im freien Fall. Immer mehr Leute, die einst Benjamin Netanjahu gewählt haben, wenden sich nun von ihm ab. «Bibi muss nach Hause gehen», sagt ein Verkäufer und Ex-Bibiist in einem Elektrogeschäft in Tel Aviv. «Das ist doch alles Wahnsinn.»

Traum von der Verfassung

Netanjahu ist offensichtlich bereit, ein ganzes Land in den Abgrund zu treiben, um einer möglichen Gefängnisstrafe zu entgehen. Noch immer steht er in drei Korruptionsfällen vor Gericht. Seine Koalitionspartner, das ist allen klar, sollen ihm mit einem Gesetz Immunität verschaffen.

Die Protestbewegung wiederum möchte nicht bloss Netanjahu stoppen, sondern eine grundsätzliche Veränderung. Manche träumen gar davon, dass sich Israel endlich eine Verfassung gibt. Seit seiner Gründung hat das Land lediglich Grundgesetze mit Verfassungsrang. Immer wieder rollten Gegner:innen der Justizreform in den vergangenen Wochen gigantische Kopien der israelischen Unabhängigkeitserklärung von 1948 von Gebäuden oder der Altstadtmauer in Jerusalem herab. Ein Aufruf auch dazu, dass Israel endlich eine Verfassung erhalten möge: In der Unabhängigkeitserklärung heisst es, dass bis Oktober 1948 eine Verfassung erlassen werden soll. Es geschah bis heute nicht – und jeder Versuch, dies zu ändern, ist bislang gescheitert.

Historiker und Kolumnist Ilany glaubt nicht daran, dass Israel in dieser Runde eine Verfassung erhalten wird. Eher denkt er, dass das Land sich am Anfang eines langen Prozesses befindet, der zu einer Art Neuordnung der Beziehungen zwischen den «Stämmen Israels» führen soll.

«Stämme Israels»? Tatsächlich macht eine noch fern scheinende Fantasie in der Protestbewegung die Runde: Sie beschwören die zwei Königreiche «Israel» und «Juda» herauf. Zu biblischen Zeiten lagen diese mehr oder weniger auf dem heutigen Gebiet Israels. In der Version des 21. Jahrhunderts wäre Israel der säkulare Staat, Juda der religiöse. Noch liegt ein solches Szenario denkbar fern. Doch Ilany beobachtet eine enorme Anziehungskraft dieser Vorstellung. Ein grosser Teil der Bevölkerung sei schlichtweg nicht damit einverstanden, unter der Macht der religiösen und nationalistischen Regierung zu stehen.

Dabei taucht auch immer häufiger das Wort «Bürgerkrieg» auf, selbst Netanjahu benutzte diese Vokabel in seiner Fernsehansprache. Entwicklungen wie das Versprechen, Ben-Gvir eine eigene Nationalgarde zu verschaffen, nähren diese Furcht. Auf der Seite der Liberalen hingegen wächst spürbar der Hass auf die «Haredim», die «Gottesfürchtigen».

Anderen Spekulationen zufolge könnten moderate Politiker:innen wie der ehemalige Verteidigungsminister Benny Gantz in die Regierung einsteigen und die rechtsextremen Parteien ersetzen. Eine akute Sicherheitsbedrohung könnte dazu führen. An Bedrohungen mangelt es derzeit nicht. Ein Blick ins Westjordanland, wo die Situation mit der neuen extrem rechten Regierung noch dramatischer geworden ist, genügt. Die Entwicklungen im Iran und im Libanon beunruhigen israelische Sicherheitsexpert:innen ebenfalls. Doch am Ende bliebe die Spaltung des Landes in zwei Lager. Diese aufzulösen, könnte den Schwierigkeitsgrad des Nahostkonflikts erreichen.