Krise in Israel: Netanjahus Ritt in den Abgrund

Nr. 15 –

In den letzten 75 Jahren seit der Gründung des Staates Israel hat der Landstrich zwischen Mittelmeer und Jordan zahlreiche Krisen und Kriege erlebt. Doch eine solch umfassende Krise, wie sie aktuell auf so vielen verschiedenen Ebenen gleichzeitig stattfindet, ist bisher wohl beispiellos. Einen grossen Teil trägt Ministerpräsident Benjamin Netanjahu dazu bei.

Fassungslos fragen sich Israelis, die den Zerfall des Staates schon vor ihrem inneren Auge sehen: Wie weit wird er in seinem Versuch gehen, sich vor einem drohenden Gefängnisaufenthalt zu retten? Denn der Ministerpräsident steht in gleich drei Korruptionsfällen vor Gericht. Eine Haftstrafe ist nicht ausgeschlossen. Netanjahu hofft darauf, dass ihm seine rechtsnationalistischen Koalitionspartner Immunität vor dem Gesetz verschaffen. Und sein bisheriger Weg legt nahe: Er wird sehr weit gehen.

Netanjahus frühere politische Agenda unterschied sich in vielem vom Programm seiner jetzigen Koalitionspartner, auch der religiös-zionistischen Siedler:innenbewegung. Deren extrem rechte Anführer waren lange die Outlaws der israelischen Gesellschaft. Nun ist die Liste Religiöser Zionismus mit vierzehn Sitzen die drittstärkste parlamentarische Kraft.

Für die Siedler:innenbewegung ist völlig klar, dass das Oberste Gericht ausgeschaltet gehört. Sie wollen einen messianischen Staat und ein Grossisrael. Dabei haben sie weder moralische Skrupel gegenüber den Palästinenser:innen, noch werden sie von sicherheitspolitischen Erwägungen geleitet. Schliesslich handeln sie, so sehen sie es, im Auftrag Gottes – was also soll passieren?

Netanjahu sollte es besser wissen. Doch er lässt seine Siedlerminister zum auch nach israelischem Recht illegalen Aussenposten Eviatar ziehen und dort ein Grossisrael beschwören. «Wir kehren zurück auf den Tempelberg», rief der rechtsextreme und strafrechtlich verurteilte Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, dort am Dienstag den Siedler:innen zu, wohl wissend, dass ein solcher Aufruf, den Status quo auf dem Tempelberg zu verändern, in den arabischen Ländern heftige Gegenwehr entfachen könnte – in einer denkbar explosiven Zeit. Zur innenpolitischen Zerrissenheit kommen derzeit auch Angriffe von aussen: Raketen aus Gaza, Syrien und dem Libanon sowie Anschläge im Westjordanland und in Tel Aviv.

Der Regierungschef aber schreckt selbst vor einer eigenen Nationalgarde für Ben-Gvir nicht zurück, damit der die Koalition nicht platzen lässt. «Eine Privatarmee für Ben-Gvir», so übersetzen es viele Israelis. Und tatsächlich wäre es wohl eine politisierte Kraft, die nicht unter dem Kommando der Polizei stünde.

Zur Koalition gehören auch die Ultraorthodoxen, und um auch sie in der Regierung zu halten, nimmt Netanjahu den steigenden Unmut der liberal-säkularen Israelis in Kauf, vielleicht gar einen Steuerstreik. Er stockt die traditionelle Subventionierung des religiösen Schulsystems für Ultraorthodoxe auf – eine Ausbildung freilich, die den Kindern der Strenggläubigen für gewöhnlich keine weltlichen Fächer wie Mathematik oder Englisch vermittelt – und setzt noch ein paar Milliarden drauf für das Thorastudium für ultraorthodoxe Männer.

Überhaupt ist Netanjahu bereit, einen ökonomischen Kollaps des Landes in Kauf zu nehmen. Denn angesichts der höchst umstrittenen drohenden Justizreform (siehe WOZ Nr. 13/23) ziehen Investoren ihr Geld ab, wandern IT-Expert:innen mit ihren Unternehmen aus. Die Landeswährung Schekel befindet sich im freien Fall. Selbst das Verhältnis zu den USA lässt er auskühlen, also zu jenem Land, das Israel die militärische Stärke gibt, die das Land derzeit noch haben mag. US-Präsident Joe Biden hat die geplante Reform jedenfalls sehr deutlich kritisiert.

Hat Netanjahu endgültig jeglichen Kompass verloren – den moralischen, den politischen und den sicherheitspolitischen? Ist ihm noch irgendetwas teuer ausser seinem Vorhaben, nicht im Gefängnis zu landen? Welchen Charakter auch immer man sich für das Land wünscht, eines steht fest: Netanjahu ist gefährlich für Israel.