Queere Paare in der Türkei: «Hier leben oder Mutter werden?»
Der Machtapparat von Recep Tayyip Erdoğan greift tief in die türkische Gesellschaft ein, auch bei der Familienpolitik. Was das für queere Paare bedeutet, zeigt die Geschichte von Merve und Leyla.
Merve und Leyla sind verliebt. Zum ersten Mal trafen sie im vergangenen Frühling aufeinander, in einer Galerie in Istanbuls Künstler:innenviertel Beyoğlu. Merve arbeitete dort, Leyla besuchte eine Ausstellung.
«Verzaubert» sei sie von Merve gewesen, sagt Leyla. Dann lacht sie in ihre Handykamera, und ihre Freundin lacht aus 2000 Kilometern Entfernung zurück. Leyla lebt wegen ihres Universitätsabschlusses seit ein paar Monaten in einer deutschen Grossstadt, Merve zu Hause in Istanbul. «Als wir uns am Flughafen verabschiedeten, habe ich mich kaum getraut, Merve zu küssen», sagt Leyla. Denn Merve ist eine trans Frau, sie sind ein sichtbar queeres Paar. Dass Leyla Frauen liebt, weiss in ihrem Umfeld kaum jemand. Beider Namen sind deshalb in diesem Text geändert.
Niemand kann genau sagen, wie viele Menschen in der Türkei sich als Mitglieder der LGBTQ-Gemeinschaft identifizieren. Fest steht, dass es sie gibt. Sie sind in Vereinen und Hochschulgruppen organisiert, tauschen sich online aus, ziehen trotz Verboten jeden Sommer mit einer Pride-Parade durch Istanbul. Der Staat erkennt ihre Liebe nicht an. Sie dürfen nicht heiraten und keine Kinder bekommen. In der konservativen Moralpolitik von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, gegen dessen autokratische Staatsführung Hunderttausende auf die Strasse gehen, haben sie keinen Platz. Anfeindungen durch den Präsidenten sind Alltag. «Pervers» nennt er sie, «unnatürlich», eine «Anomalie».
Und seit einiger Zeit macht er sie auch für den Rückgang der Geburtenraten verantwortlich. Dabei würden viele queere Türk:innen gerne Familien gründen. Wenn sie dürften. «Uns war von Anfang an klar», sagt Merve, «dass die Türkei nicht unser dauerhafter Wohnort sein kann, wenn wir Eltern werden wollen.» Die nächsten Sätze sagt die Istanbulerin sachlich, nüchtern, als würde sie ein Naturgesetz beschreiben. «Ich als Frau muss eine Wahl treffen: In der Türkei leben oder Mutter werden? Beides geht nicht.»
Die Türkei altert schnell
Schaut man sich die Wachstumskurve der türkischen Bevölkerung an, leuchtet nicht sofort ein, wieso das Land dringend Nachwuchs brauchen sollte. Doch der Aufwärtstrend trügt. Lag der Altersmedian im Jahr 2010 noch bei 28 Jahren, kletterte er zuletzt auf 33. Zum Vergleich: Im selben Zeitraum stieg der Schweizer Altersmedian um nur zwei Jahre von 44 auf 46.
Die Türkei altert, und sie altert schnell. Anfang dieses Jahres rief Staatspräsident Erdoğan für 2025 deshalb das «Jahr der Familie» aus. Was das in der Praxis bedeutet, erklärte er Mitte Januar vor ausgewählten Gästen im präsidialen Kongresszentrum in Ankara. Heiratswillige Paare sollen zinslose Kredite erhalten, ausserdem wird erstmals ein monatliches Kindergeld eingeführt. Von Sätzen wie «Die Familie ist eine kleine Gesellschaft, die Gesellschaft eine grosse Familie» kommt Erdoğan ohne Umschweife zur «kulturellen Erosion» durch «naturwidrige Strömungen wie LGBT». Diese würden als «Rammbock» einer Politik benutzt, die die Geschlechter abschaffen wolle. Wer dahinterstecken soll, darüber schweigt der Präsident. Nur so viel: Sie hätten es auf die «Heiligkeit der Institution Familie» abgesehen.
Auf den Videos, die Merve schickt, singt Leyla Lieder in die Kamera. Es sind kurze Pärchenfilme, wie sie in dieser Generation üblich sind, strahlende Gesichter, verliebte Albernheit. In einem sitzen sie im Auto, die Sonne steht tief und taucht die jungen Frauen in goldenes Licht. Merve fährt, die Augen auf der Strasse, eine Hand am Steuer, die andere hält Leylas Hand mit den rot lackierten Fingernägeln, auf die Merve einen Kuss drückt. Leylas lange schwarze Locken liegen auf einer Schulter, die sich rhythmisch zum bekannten Lied «Ben kalender meşrebim» bewegt. Ein anderes Video zeigt die beiden in einem Lift, der gerade genug Platz für zwei Personen bietet. Leyla steht vor Merve, einen Kopf kleiner als sie, hält die Handykamera auf den Spiegel und singt a cappella einen Pophit der 2000er. Auf engstem Raum improvisieren sie eine Choreografie, bis die Tür aufgeht.
Wie viele Kinder sie gerne hätten, darüber sind sich die jungen Frauen uneinig. Leyla wünscht sich eins, Merve am liebsten gleich fünf. Das neue Kindergeld zahlt der Staat erst ab dem zweiten Kind. Für dieses gibt es monatlich 1500, für das dritte 5000 Lira (knapp 120 Franken). Der Sprung zwischen den Beträgen ist kein Zufall, die Botschaft klar: Bitte mindestens drei Kinder. Die 85 Millionen Menschen in der Türkei kennen die Losung. Schon 2007 gab Erdoğan sie erstmals heraus, damals noch als Ministerpräsident, seitdem wiederholte er sie immer wieder. «Die Gefahr, die jetzt vor uns steht», so der Präsident in seiner Rede in der Kongresshalle, «haben wir schon vor fast zwanzig Jahren erkannt.»
«Du bist, was der Staat sagt»
Auf diese Gefahr weisen weltweit immer mehr Wissenschaftler:innen hin. Bekommen Paare wenige oder gar keine Kinder, entstehen demografische Probleme: Überalterung, Arbeitskräftemangel, Überlastung der Rentensysteme. Die Politikwissenschaftlerin Seren Selvin Korkmaz, die in Istanbul den sozialpolitischen Thinktank Istanpol Institute leitet, spricht deshalb gegenüber der WOZ von einer «realistischen Sorge», die die regierende Partei AKP umtreibe. Die Hilfen würden unter den aktuellen ökonomischen Umständen allerdings bei weitem nicht reichen, damit Junge tatsächlich Familien gründen könnten. «Das ‹Jahr der Familie› dient vor allem einer moralischen Agenda, die auf religiösem und kulturellem Konservatismus beruht.» Das Bild der heiligen Mutter, «Übermittlerin traditioneller Werte», sei zentral für diese Erzählung. «Es nimmt dir das Zugehörigkeitsgefühl.»
Wenn Leyla über Queerfeindlichkeit in der Türkei spricht, wird ihre Stimme lauter, ihr Ausdruck härter. «Mit deiner Existenz gibt es immer ein grundlegendes Problem: Du bist so, und deshalb bist du keine von uns. Ich habe mich oft gefragt, wo ich eigentlich hingehöre.» Sie erinnert sich an eine Szene aus ihrer Studienzeit. Am Beyazıt-Platz vor der Uni Istanbul, Zentrum der Student:innenbewegung der siebziger und achtziger Jahre und bis heute beliebter Ort für Kundgebungen, habe die Polizei vor einer Demo zum Frauenkampftag Kontrollen durchgeführt. Ein Freund von Leyla, ein trans Mann, habe dagegen protestiert, von einer Frau durchsucht zu werden. «Da sagte der Polizist: ‹Du bist, was der Staat sagt, was du bist.› Diesen Satz werde ich nie vergessen.»
Politologin Korkmaz sieht die «patriarchale Interpretation von Familie» als Motor der Spaltung. «Indem die AKP traditionelle Familienstrukturen idealisiert, entfremdet sie all diejenigen, die aus diesem Rahmen fallen.» Auch Leyla und Merve sprechen viel von Entfremdung, von Misstrauen in Institutionen. Und von Schutzlosigkeit. «Ich hätte hier in der Türkei nicht das Gefühl, für die Sicherheit meines Kindes sorgen zu können», sagt Merve. «Das muss als Elternteil eines der furchtbarsten Dinge überhaupt sein.»
Um sich ihren Kinderwunsch zu erfüllen, wollen sie eines Tages in die EU auswandern. Nur über das Land sind sie sich noch uneinig. Merve möchte in der Nähe des Mittelmeers bleiben, Leyla sieht ihre Zukunft im Norden. «Alles andere hängt davon ab, wann Leyla den Antrag macht», sagt Merve und lacht. Im fernen Deutschland lacht Leyla zurück.
Proteste gegen Erdoğan: Die Generation Z hat genug
Rund zwei Wochen sind vergangen, seit der Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu in Haft genommen wurde. Der Politiker von der CHP gilt als stärkster Gegner Recep Tayyip Erdoğans bei der für 2028 geplanten Präsidentschaftswahl.
Hunderttausende gehen seit seiner Verhaftung auf die Strassen. Ihnen geht es nicht nur um den Angriff auf einen Politiker, einen Anführer der linksnationalistischen sozialdemokratischen Oppositionspartei, die so alt ist wie die von Mustafa Kemal Atatürk gegründete hundertjährige Republik. Die Demonstrant:innen kämpfen gegen das Regime Erdoğans, das in den vergangenen Jahren die Gewaltenteilung fast vollständig aufgehoben hat und als Nächstes die CHP als Konkurrentin loswerden will. Mit der Inhaftierung İmamoğlus haben die Menschen einen weiteren Beweis dafür bekommen, dass ihre Stimmen dem Präsidenten nichts wert sind.
Die Regierung hat Proteste erwartet – vorsorglich hat sie Demonstrationsverbote erlassen und Verkehrsknotenpunkte gesperrt –, aber das Ausmass des Aufstands unterschätzt. Der Präsident spricht von «Strassenterror». Sogar die Feiertage zum Fastenbrechen wurden nun verlängert in der Hoffnung, dass die Menschen lieber feiern statt zu demonstrieren. Medien dürfen nicht sachlich über die Proteste berichten, Redaktionen, die es doch tun, müssen Geldstrafen zahlen oder werden geschlossen.
Nach Angaben des Innenministeriums wurden in den ersten Tagen der Aufstände mehr als 1800 Menschen verhaftet und etwa 260 in Untersuchungshaft genommen. Doch die Demonstrant:innen lassen sich bislang nicht einschüchtern, das harte Durchgreifen der Regierung scheint sie zusätzlich zu motivieren. Die CHP ruft derweil zum Boykott regierungsnaher Unternehmen auf.
Neben den grossen Demonstrationen gibt es auch täglich zahlreiche Proteste an den Universitäten, die oft mit Reizgas bekämpft werden. An den Unis werden deswegen Gasmasken und Asthmamedikamente verteilt. Freiwillige Rettungsteams helfen, wenn Demonstrant:innen verletzt wurden. Die Polizei patrouilliert verdeckt in den Hochschulen und setzt Drohnen ein, um die Student:innen zu verfolgen. Aus diesem Grund tragen viele der Protestierenden Masken.
Erdoğan erlebt wie schon bei den Gezi-Protesten 2013 einen Volksaufstand, diesmal angeführt von der Generation Z – jungen Menschen, die keinen Mann ausser Erdoğan an der Spitze des Landes erlebt haben. Und die wissen: Sich aufzulehnen ist strafbar in diesem Land und kann schwerwiegende Folgen für einen selbst und für die eigene Familie haben. Sie haben genug von der Perspektivlosigkeit angesichts der nicht endenden Hyperinflation und dem Ein-Mann-Regime, dem sie die Schuld dafür geben.
Sollten die Hunderttausende auf den Strassen und die Tausende in den Universitäten den Präsidenten nicht zum Einlenken bewegen können, verliert das Land eine ganze Generation, die auf gepackten Koffern sitzt und jede Gelegenheit nutzen wird, die Türkei zu verlassen.