Sachbuch: Die Freigeborenen von Madagaskar
Radikale soziale Experimente: Der 2020 verstorbene Kulturanthropologe David Graeber verfolgt in einem nun auf Deutsch vorliegenden Buch die Spuren der Piraten im Osten Afrikas.
Der französische Philosoph Michel Foucault bezeichnete einmal das Schiff als «grösstes Instrument der wirtschaftlichen Entwicklung» in der Neuzeit, aber auch als gewaltiges «Imaginationsarsenal»: Aufs Meer wurden Gegenentwürfe zu bestehenden sozialen Ordnungen projiziert, und mitunter wurden sie dort auch wirklich gelebt. Das würde erklären, warum Pirat:innengeschichten – mal mehr, mal weniger fingierte Legenden über aufrührerische Seeleute, die den weltlichen und geistlichen Mächten den Krieg erklärten – bis heute faszinieren.
Auch den anarchistischen Intellektuellen David Graeber hatten sie in ihren Bann gezogen. Der US-amerikanische Kulturanthropologe, der mit einer kulturhistorischen Arbeit über Schulden und als Vordenker der Occupy-Proteste berühmt wurde, ist 2020 überraschend früh gestorben, nun ist posthum noch eine Arbeit erschienen: über die einst auf Madagaskar siedelnden Piraten. Auf der östlich des afrikanischen Kontinents gelegenen Insel hatte Graeber einst als junger Wissenschaftler ethnografische Feldforschung betrieben. Schon damals, schreibt er im Vorwort, habe er erfahren, dass sich in den Jahrzehnten um 1700 Seeräuber aus der Karibik auf Madagaskar niedergelassen hatten und ihre Nachkommen dort später eine eigene Bevölkerungsgruppe bilden sollten. Graeber plante ein Forschungsprojekt dazu, das er dann aber nie anging – bis er kurz vor seinem Tod zumindest den nun vorliegenden Essay niederschrieb.
Eine libertäre Sage
Der Anthropologe erweitert damit die Literatur zu einer der bekanntesten Pirat:innensagen überhaupt: dem Bericht über die protoanarchistische Republik Libertalia. Von dieser erzählt die in den 1720er Jahren in London erschienene «History of the Pyrates», eine von einem gewissen Captain Charles Johnson erstellte Sammlung von Bukanierbiografien. Im 20. Jahrhundert wurde lange gemutmasst, dass in Wahrheit der spätere «Robinson Crusoe»-Autor Daniel Defoe die «History» verfasst habe, die Frage der Autorschaft blieb aber umstritten. Fest steht, dass das Werk das vorherrschende Bild von den Bandit:innen zur See umfassend prägte.
Dem Libertalia-Mythos zufolge verschlug es einen französischen Piratenkapitän namens Misson und seinen Kompagnon, einen freidenkerischen Exkleriker aus Italien, nach Madagaskar, wo sie eine Siedlung errichteten – der Ort lag günstig für den Handel wie auch für Raubzüge in den Indischen Ozean. Ihre Kolonie tauften sie Libertalia, sich selbst nannten die Bewohner:innen «liberi»: die Freigeborenen. Schon an Bord hatten Missons Leute als Freie und Gleiche und in Gütergemeinschaft gelebt, Sklaverei und Christentum lehnten sie ab. Damit griffen sie dem Zeitalter der Revolutionen in Europa und Nordamerika auf erstaunliche Weise voraus. Letztlich soll dann Libertalia jedoch durch einen Überfall Indigener zerstört worden sein.
Aufklärung und Abendland
Wahrscheinlich haben weder ein Kapitän Misson noch dessen Kolonie je existiert. Belegt ist allerdings, dass es Piratensiedlungen an der Küste Madagaskars gab. Für Graeber repräsentieren sie «Orte radikaler gesellschaftlicher Experimente», in denen die verhältnismässig egalitären Satzungen der Piratenschiffe aufs Land übertragen und neue Eigentumsformen und Regierungstechniken erprobt wurden. Zugleich betont der Autor, dass es sich dabei um keine Angelegenheit isoliert hausender Europäer gehandelt habe, sondern dass diese Experimente in die madagassischen Gemeinschaften hineingestrahlt hätten. Graeber ist gerade dieser Aspekt wichtig, weil er in der überlieferten Libertalia-Erzählung eine eurozentrische Verengung wahrnimmt: Darin würden die um die Neuankömmlinge herum lebenden Madagass:innen «auf die Rolle feindseliger Stammesgesellschaften reduziert».
Zugleich sucht der Kulturanthropologe einen Beleg für eine viel weitreichendere These: Wenn es sich nämlich bei diesen Siedlungen wirklich um eine Art radikalaufklärerischer Versuchsanordnung gehandelt haben sollte und sich zugleich zeigen liesse, dass diese der Verschmelzung westlicher mit lokalen Einflüsse entsprungen war, dann würde dies das etablierte Bild von der «europäischen» Aufklärung revidieren. Und damit die von Graeber schon früher gehegte Intuition bestätigen, dass demokratische Praktiken keine exklusiv abendländische Innovation gewesen sind (nachzulesen etwa auch in dem ebenfalls jüngst auf Deutsch erschienenen Essay «Einen Westen hat es nie gegeben»).
Es ist also ein ambitioniertes Programm, das die Studie verfolgt. Realisieren kann es Graeber allerdings nur in Ansätzen. Denkbar, dass er den Text bei einer Veröffentlichung zu Lebzeiten noch ausgearbeitet hätte, vielleicht aber hätte auch dann die Quellenlage nicht mehr hergegeben als die nun vorliegende Skizze. Vieles darin bleibt im Bereich der Mutmassungen, sodass sich die Arbeit recht abenteuerlich liest – was andererseits aber gut zu ihrem Gegenstand passt.
Wie schwierig Graebers Unterfangen ist, lässt sich schon allein daran ablesen, dass sein Hauptgewährsmann bei der Erschliessung der Verhältnisse auf dem damaligen Madagaskar der französische Autor Nicolas Mayeur ist. Dieser ist der Verfasser einer Biografie eines lokalen Fürsten namens Ratsimilaho, der wiederum Sohn eines englischen Piraten und einer Madagassin war und Anfang des 18. Jahrhunderts ein wichtiges Bündnis madagassischer Clans anführte.
Ein Sklavenhändler als Kronzeuge
Mayeur schrieb die Biografie nun nicht nur lange nach Ratsimilahos Tod, er war auch alles andere als ein klassischer Chronist. Vielmehr arbeitete er als Spion für einen polnischen Hochstapler, der sich am französischen Hof als Graf und Herrscher von Madagaskar ausgab. Dieser falsche Adlige bestellte nun beim Franzosen, der eigentlich Sklavenhändler war, Berichte über seinen angeblichen Herrschaftsbereich, um so seine Legende in Europa glaubwürdiger erscheinen zu lassen. Man kann erahnen, wie waghalsig es ist, anhand solchen Materials das Geschehen zu rekonstruieren.
Letztlich liefert Graeber entsprechend wenig stichhaltige Hinweise darauf, dass es auf Madagaskar wirklich so etwas wie frühe anarchistische Kommunen gab. Dafür aber entschädigt er mit umso mutigeren Thesen. Er trägt etwa Hinweise dafür zusammen, dass auf der Insel mit der Zeit tatsächlich eine kreolische Pirat:innenkultur entstand. Die Grenzen zwischen den Indigenen und den Neuankömmlingen aus Europa und der Karibik waren sehr durchlässig, die madagassischen Lokalherrscher verheirateten häufig ihre Töchter mit den Seeleuten. Graeber deutet dies weniger als patriarchale Praxis denn als feministische Selbstermächtigung: Die Frauen hätten sich bewusst Piraten als Männer gesucht, weil sie sich dadurch die Emanzipation von ihren Familien und eine Karriere als Händlerinnen versprachen. Ob das tatsächlich so war, wird vermutlich nie mit Gewissheit zu sagen sein.
Allein Graebers Verve aber beim Versuch, eingefahrene historiografische Deutungsmuster zu durchbrechen, lohnt die Lektüre. Wie heisst es schon im Vorwort? Selbst wenn Libertalia nie wirklich existiert hat, so bleibt doch das Gefühl: Dieses Experiment hätte es zumindest geben sollen.
David Graeber: «Piraten. Auf der Suche nach der wahren Freiheit». Aus dem Englischen von Werner Roller. Verlag Klett-Cotta. Stuttgart 2023. 256 Seiten. 34 Franken.