Literatur: Niemals aufgehört
Der zerschossene Kiosk, die Langeweile und die Abstumpfung: Tijan Sila erzählt in «Radio Sarajevo» von einer Kindheit im Krieg.
Die eigenen Kriegserlebnisse zu ordnen und den Krieg begreifbar zu machen, darum sei es ihm beim Schreiben gegangen, sagte Tijan Sila vor kurzem in einem Interview. In seinem soeben erschienenen Buch «Radio Sarajevo» hat der deutsche Schriftsteller seine Erinnerungen an den Bosnienkrieg niedergeschrieben. Geboren 1981 in Sarajevo, steht er die im April 1992 einsetzende Belagerung seiner Heimatstadt als Kind fast drei Jahre lang durch, bis er mit seiner Familie nach Deutschland emigriert.
In siebzehn kurzen Kapiteln, umrahmt von einem Pro- und einem Epilog, erzählt Sila vor allem vom Kriegsalltag und den prägendsten Geschehnissen während der Belagerung. Diese erlebt er in einer Plattenbausiedlung im Stadtteil Čengić Vila im Westen der Stadt. Die Welt des damaligen Kindes, dessen Gefühlen der Autor immer wieder nachspürt, spielte sich vor allem in der kleinen Zweizimmerwohnung mit seiner Familie und auf der Strasse ab. Hier verbringt er mit seiner «zweiten Familie», den Jungen aus dem Viertel, seine Zeit. Diese gleichaltrigen Freunde aus der Nachbarschaft, die man in Bosnien mit dem aus osmanischer Zeit stammenden Begriff «Raja» bezeichnet, spielen denn auch eine äusserst wichtige Rolle im Text. Wie auch seine Eltern – geht es doch im Buch auch um die Auswirkungen des Krieges auf diese beiden unterschiedlichen Generationen.
Aus einem Akademikerhaushalt
Der unter dem Pseudonym Tijan Sila schreibende Autor arbeitet in Kaiserslautern als Berufsschullehrer, spielt in einer Punkband Gitarre und hat bereits drei viel beachtete Romane veröffentlicht. Er stammt aus einem Akademiker:innenhaushalt – der Vater war in Sarajevo Universitätsprofessor für Bibliothekswissenschaften, die Mutter Germanistikdozentin.
Schonungslos beschreibt er in «Radio Sarajevo» seine Eltern: Der weltfremde, ängstliche und im Krieg völlig überforderte Vater schlug seinen Sohn oft und brach ihm einmal sogar den Arm. Seine Mutter, «blasiert und rechthaberisch», schrieb während der Belagerung intensiv weiter an ihrer Promotion. Kurz vor der Emigration nach Mannheim antwortete sie, deren «unerschrockener, oft kaltherziger Hochmut» brillant beschrieben wird, auf Tijans Wunsch, ihm Deutsch beizubringen, sie werde dies nicht tun: Sie sei Wissenschaftlerin und nicht Lehrerin.
Trotz dieser Kälte und der Gewalt spürt man im Text immer wieder einen zärtlichen Blick auf die Eltern, die sich durchaus um ihre beiden Söhne sorgten, und auch den Schmerz über ihr Schicksal. In Deutschland fassten sie nämlich nicht mehr Tritt und erkrankten psychisch, weshalb Sila zum bitteren Schluss kommt: «Meine Eltern hatten den Krieg zwar überlebt, und doch vernichtete er sie am Ende.»
Während des Kriegs war der junge Tijan wann immer möglich auf der Strasse mit seinen beiden Freunden Sead und Rafik. Eine Zeit lang bestand die Hauptbeschäftigung von Silas «Raja» darin, die Schule zu schwänzen und in zerschossenen Kiosken Pornohefte zu suchen, um sie dann bei den Soldaten der Schutztruppe der Vereinten Nationen gegen Süssigkeiten einzutauschen. Daneben hörten sie, wenn sie denn Batterien besassen, auf einem Taschenradio Musik des Senders Radio Sarajevo.
Kurz bevor Sila die Stadt 1994 verliess, entfremdeten sich die Freunde allerdings. Die Belagerung liess Sead und Rafik «verwildern», sie begannen, Kleber zu schnüffeln, und interessierten sich, früher als der Autor, für Mädchen. Dieser schafft es schlussendlich nicht mehr, sich vor der Flucht von ihnen zu verabschieden, und trifft sie erst 25 Jahre später wieder. Rafik ist mittlerweile im Gefängnis und konsumiert weiterhin Drogen. Sead hat zwar studiert und arbeitet nun als Makler, meint jedoch, «der Krieg hat niemals aufgehört». Dies stimme auch für sein eigenes Leben, fügt Sila an. Und nach der Lektüre dieser berührenden Erinnerungen lässt sich erahnen, weshalb dem so ist.
Man kann sich «Radio Sarajevo», das voller kurzer, unterhaltsamer Erzählungen und Episoden steckt, gut als Film vorstellen. Auch deshalb, weil der Autor mit vielen kleinen Details die Räume beschreibt: die kleine Wohnung ohne Fensterscheiben, in der das Bad den sichersten Ort darstellt; die Keller, die ausgeräumt werden müssen, um als Schutzräume zu dienen; die Plattenbauten mit ihren jeweiligen Spitznamen und die Strassen des Viertels mit den zerschossenen Autos und brennenden und stinkenden Müllhaufen. Sila schildert die Langeweile und die Abstumpfung durch den Krieg. In einprägsamen Bildern erinnert er sich auch an die erschütterndsten Szenen, beispielsweise als er seinen toten Nachbarn erblickte: «Als sie Ermins Leiche von der Front zurückbrachten – in eine Decke gewickelt, man sah aber dennoch, wie wenig vom Schädel übrig war –, vergass ich, wo ich stand, ich sah nichts mehr; ich zog mich in unser Haustor zurück, setzte mich auf die Treppe und verfiel zum ersten Mal seit Monaten wieder in jene Trance. Nach einer Weile kam ich wieder zu Bewusstsein, es war, wie verklebt aus einem riesigen Tintenfass zu klettern.» Ermin war einer von mehr als 11 500 Toten, andere Quellen gehen gar von fast 14 000 Opfern aus, die die Belagerung Sarajevos forderte.
Gleichwohl enthält «Radio Sarajevo» wie bereits die ersten drei Romane von Sila zahlreiche unterhaltsame Passagen. So beschreibt er etwa den Nachbarn eines Freundes, der nur in einer roten Unterhose an der Tür erscheint, wie folgt: «Er war kahl und bartlos, doch dafür war sein gesamter Oberkörper von einem weissen Flaum bedeckt; die Brustwarzen schimmerten wie Laub unter dem ersten Schnee.» Voller Humor sind auch viele der Dialoge, bei denen man zuweilen die bosnischen Formulierungen durch das Deutsche hindurchhört. Wenn der Nachbar bei der ersten Bombardierung zum Beispiel ausruft: «Liebe Leute, was ist das?» (Ljudi dragi, šta je ovo?). Und auch sonst ist das Bosnische immer wieder präsent, wenn Sila Begriffe und Wendungen einführt. Manchmal baut er sie gar ohne Erklärung ein, wie etwa das im Bosnischen gebräuchliche «haustor», das den Hauseingang bezeichnet.
Nicht immer das gleiche Muster
Leider sind Silas Ausführungen zu historischen Geschehnissen vereinzelt allzu knapp und ungenau. So schreibt er, es sei bei den Jugoslawienkriegen immer das gleiche Muster gewesen. Auf die jeweiligen Unabhängigkeitserklärungen in Slowenien und Kroatien 1991, in Bosnien und Herzegowina 1992 und im Kosovo 2008 seien diese Länder anschliessend von der «serbischen Armee» «überfallen» worden. Doch es handelte sich in den ersten Kriegsmonaten bei der Jugoslawischen Volksarmee nicht einfach um eine «serbische Armee», wie kürzlich Norbert Mappes-Niediek in seinem Buch «Krieg in Europa. Der Zerfall Jugoslawiens und der überforderte Kontinent» ausgeführt hat. Und die gewalttätigen Auseinandersetzungen nach der Unabhängigkeit des Kosovo können kaum als «Überfall der serbischen Armee» bezeichnet werden.
In den allermeisten Fällen schafft es Sila jedoch durchaus, komplexe Sachverhalte auf den Punkt zu bringen. Und selbst bei ein wenig abgedroschenen Themen wie den Unterschieden beim Fluchen im Bosnischen und im Deutschen findet er grandiose Beispiele: «Wenn Eltern zu ihrem Kind liebkosend ‹Jebo te miš-biribiš› sagen, so bedeutet das ungefähr: ‹Möge die Schmusemaus dich bumsen.› Doch die Übersetzung klingt schief und fremd, während der Satz im Bosnischen liebevoll und lustig ist.»
Der Autor liest am 21. September 2023 um 19 Uhr im Literaturhaus Basel.