Arbeitskampf am Theater Basel: Alle verhandeln mit
Das technische Personal am Theater Basel ist stark überlastet – und fordert ein Theater, das seine Bedürfnisse nicht übergeht. Erprobt wird hier auch eine in der Schweiz bisher einmalige Form gewerkschaftlicher Verhandlung.
In der Welt von Nils Braun, an der HSG geschultem Finanzdirektor des Theaters Basel, gehört alles in die Balance. Wo etwas rausgeht, muss etwas reinkommen. Oder anders gesagt: Die Rechnung muss am Ende des Jahres ausgeglichen sein. «Mein Ziel», sagt Braun, «ist immer die schwarze Null.» Das sei die Vorgabe der Politik, die über Subventionen einen grossen Teil des Basler Theaterbetriebs finanziert.
Braun und die Geschäftsleitung des Theaters stehen in komplizierten Verhandlungen mit dem technischen Personal und den Gewerkschaften VPOD und Unia über einen neuen Gesamtarbeitsvertrag. Es geht um Arbeitszeiten, um Dienstpläne und um die Löhne. Neunzehn Verhandlungsrunden gab es schon, ein langer Weg wurde zurückgelegt, «aber wir sind kaum vorwärtsgekommen», sagt Braun. Die Veränderungen, die von der Belegschaft gefordert würden, würden der Komplexität des Betriebs nicht immer gerecht. Wenn jemand etwa am Wochenende freihaben wolle, müsse jemand anders am Wochenende arbeiten. «Das ist ein Nullsummenspiel», sagt Braun.
Emotionale Erpressung
Doch die Frage ist, welche Kosten in die Berechnung einfliessen und welche nicht. Kürzlich hat das technische Personal der Theaterleitung eine «Quittung der Arbeitsüberlastung» ausgestellt. Und darin auf der Basis einer Befragung sämtliche Probleme aufgelistet: Fünfzehn Personen leiden an Schlafstörungen, zehn haben Suchtprobleme, sechzehn haben all ihre Hobbys aufgegeben, dreissig geben Rückenschmerzen an, sechs eine Belastungsdepression. Die Aufzählung geht noch weiter. «Sie verstecken sich immer hinter Zahlen, also haben wir ihnen Zahlen geliefert», sagt Gewerkschafter:in Alex Aronsky. Auch um aufzuzeigen, wie stark das Betriebsmodell des Theaters Basel – und letztlich vieler etablierter Theaterhäuser – auf Ausbeutung und Selbstausbeutung abstellt.
«Emotionale Erpressung» nennt Susi Tenner dieses Modell. Tenner arbeitet seit 2013 als Maskenbildnerin am Theater Basel. Im Atelier fertigt sie Perücken und Masken an, vor der Vorstellung schminkt sie die Darsteller:innen, danach sammelt sie die Perücken wieder ein und wäscht sie. Es ist viel Arbeit, und sie fällt unregelmässig an. «Bei mir gibt es keine Woche zweimal», sagt sie. Sie arbeitet bis zu elf Tage am Stück, freie Wochenenden hat sie während der Spielzeit kaum. Ein funktionierendes Sozial- oder Familienleben ist während dieser Zeit undenkbar.
Tenner sagt, und es erinnert an die Gleichung von Finanzdirektor Braun: «Wenn ich Überstunden abbaue, muss jemand Überstunden machen.» Und da beginnt die Erpressung. Tenner kann sich nur entlasten, indem sie andere belastet – auch weil das Team in den letzten Jahren kleingespart wurde. Doch die Erpressung funktioniert auch über die Leidenschaft für die Arbeit am Theater. Natürlich wolle sie ihren Job so gut wie möglich machen, sagt sie. Für die Kunst und fürs Publikum. Wenn das Stück auf der Bühne zu Ende gehe, schalte sie den Lautsprecher ein, und wenn sie dann den Applaus höre, sei dies das Grösste. Susi Tenner sagt aber auch: «Ich bin nicht bereit, für den Beruf, den ich liebe, mein Leben aufzugeben.»
Seit über einem Jahr – verhandelt wird seit Juni 2023 – versucht sie deshalb zusammen mit den 250 Angestellten des technischen Personals, die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Der Arbeitskampf will die Prioritäten des Theaterbetriebs, wo der künstlerische Output bislang über allem steht, neu definieren. So sei das eben am Theater, hätten sie oft gehört, wenn sie Missstände vorgebracht hätten. Alex Aronsky vom VPOD sagt: «Das Basler Theater versteht sich als eines der besten Häuser Europas, ist aber nicht bereit, die nötigen Ressourcen für diese Spitzenleistung bereitzustellen.» Die Kunst könne nicht mehr auf Kosten anständiger Löhne und Arbeitsbedingungen gehen.
«Arbeit am Unikat»
Isabelle Wunderlin arbeitet als Herrenschneiderin am Theater Basel. Seit sechzehn Jahren macht sie den Job, die Arbeitslast sei in dieser Zeit beständig gewachsen. Wunderlin schildert als Beispiel eine Produktion mit besonders vielen aufwendigen Kostümen. Ihr Team arbeitete tagelang ohne Unterbruch. Dann hiess es nach der ersten Probe, man brauche doch nur die Hälfte der Kostüme. Auch das ist eine neuere Entwicklung: Viele Produktionen ändern kurz vor der Premiere noch die Richtung.
Spricht man Nils Braun auf die gestiegene Belastung an, sagt er, der Job sei natürlich anstrengend und manchmal schwierig. «Die meisten arbeiten trotzdem sehr gerne hier.» Es stecke so viel Herzblut in der Arbeit am Theater, «in der Arbeit am Unikat», am einzigartigen Werk. «Deshalb hat der Satz ‹So ist es nun mal am Theater› schon eine gewisse Gültigkeit.» Die Theaterleitung lehnt die Forderungen der Belegschaft entweder ab oder hat eigene Angebote vorgelegt. Mehr Lohn liege nicht drin, sagt Braun. Eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit von 42 auf 40 Stunden würde man gutheissen, allerdings nur bei einer weiteren Flexibilisierung der Arbeitszeit und auch nur mit einem «Absenkungspfad über vier Jahre gestreckt». Veränderungen, die zu erheblichen Mehrkosten führen, lehne die Geschäftsleitung kategorisch ab.
Tatsächlich wies das Theater bis vor einer Erhöhung der Subventionen 2023 ein Millionendefizit aus, verursacht allerdings zum grossen Teil durch Managementfehler. Die Leitung des Theaters wollte 2015 von der Strommarktliberalisierung profitieren und handelte einen eigenen Deal aus. Mehrkosten in der letzten Spielzeit: eine halbe Million Franken.
Jede:r fühlt sich gehört
Ausbaden muss das jetzt auch das Personal, weil das Geld für Verbesserungen der Arbeitsbedingungen fehlt. Und so ziehen sich die Verhandlungen dahin, ohne dass sich ein Durchbruch für die Beschäftigten abzeichnet. Trotzdem, sagt Isabelle Wunderlin, sei die Stimmung im Team so gut wie schon lange nicht mehr. Das liegt wesentlich an der für die Schweiz bisher einmaligen Form, in der die GAV-Verhandlungen geführt werden. Im offenen Format verhandelt nicht eine kleine Delegation hinter verschlossenen Türen mit der Betriebsleitung. Stattdessen stellt jede Abteilung drei bis vier Vertreter:innen; gesamthaft sind es 35 Teilnehmer:innen, alle anderen können den Gesprächen als Gäste beiwohnen. Die Verhandlungen dauern jeweils vier Stunden, und die Theatertechniker:innen nutzten sie bisher, um der Direktion ihre Arbeitssituation vor Augen zu führen. «Da waren manche geschockt, die hatten keine Ahnung, wie unser Alltag aussieht», sagt Wunderlin. Eine neue Erfahrung war das auch fürs Team. Hemmungen fielen, sich zu exponieren, jede:r fühlte sich gehört.
Das offene Format wird von Gewerkschaften in den USA oft eingesetzt, in Deutschland nutzte es die sogenannte Berliner Krankenhausbewegung, die sich während der Coronapandemie deutlich bessere Arbeitsbedingungen erstritt. Alex Aronsky sagt, es entspreche dem Verständnis des VPOD von gewerkschaftlicher Basisarbeit. Als Aronsky es vor Beginn der GAV-Verhandlungen den Angestellten des Theaters als mögliches Format vorstellte, stimmten alle begeistert zu. Auch Intendant Benedikt von Peter gefiel die Idee der offenen Debatte.
Für Aronsky bietet das offene Format gewichtige Vorteile. Es ermächtige alle Mitarbeiter:innen, ihre Lage selber zu verbessern. «Es nivelliert das Machtgefälle zwischen Geschäftsleitung und Angestellten», sagt Aronsky. Die Leitung büsse ihren Informationsvorsprung ein, weil alle Angestellten mit ihren Erfahrungen und ihrem Wissen mit am Tisch sässen.
Innerhalb des Theaters, sagen Isabelle Wunderlin und Susi Tenner, hätten sie eine grosse Solidarisierung erlebt, auch durch das künstlerische Personal. Nach einem öffentlichen Protest im Juni während der Oper «Carmen» posteten Sänger:innen Solidaritätsbekundungen auf Social Media. Die Verhandlungen politisierten die Mitarbeiter:innen des Theaters. Viele hätten sich erstmals mit ihrem Vertrag und dem GAV auseinandergesetzt. Und dabei festgestellt, wie oft ihr Arbeitsalltag gegen die Bedingungen in Arbeitsverträgen und GAV verstösst. Noch vor einem Jahr, sagen sie, sei es auch für sie selber undenkbar gewesen, sich öffentlich gegen die Theaterleitung zu stellen. «Doch jetzt ist allen klar», sagt Tenner, «dass wir ein Recht haben, für bessere Bedingungen zu kämpfen.»