Demokratie von Rechts: Eine Velobrücke für die Minderheit
Erweiterte Demokratie: Wer könnte dagegen sein? Ein Historiker und ein Ökonom versuchen mit einem Buch, mehr «Teilhabe aller» am demokratischen Prozess als Wettbewerb zu propagieren.
Es ist ein lehrreiches Buch. Lernen lässt sich daraus, wie die Forderung nach einer «partizipativen Demokratie» von rechts, aus konservativer oder neoliberaler Warte, vereinnahmt werden soll. «Mehr Demokratie wagen», so der Titel des Buchs, fordern mit Willy Brandt die zwei bekannten Autoren. In den ersten Kapiteln rekonstruiert der Historiker Oliver Zimmer die Entwicklung der bürgerlichen Demokratiekonzeptionen ab Ende des 18. Jahrhunderts; danach macht der Ökonom Bruno S. Frey Vorschläge für eine erneuerte Demokratie.
Zur «Krise der Demokratie» gibt es genügend Anschauungsmaterial: Soeben hat eine Mehrheit des Schweizer Nationalrats die «Rettung» der CS durch Notrecht als undemokratische Ausschaltung des Parlaments verurteilt. Die Kritik an den westlichen Demokratieformen kommt von rechts wie von links; Zimmer versammelt die konservativen Argumente.
Er beschreibt, wie sich der ursprüngliche Anspruch der Aufklärung, alle (Männer) an den gesellschaftlichen Entscheidungen teilhaben zu lassen, zuerst zur repräsentativen Demokratie verengte, dann in eine Elitenherrschaft, eine «Epistokratie», geführt habe, mit aufgeblähtem Zentralstaat samt Bürokratie und Misstrauen dem «einfachen Volk» gegenüber. Das ist nicht unrichtig; eine entsprechende Staatskritik gibt es seit langem. Indem er sich historisch auf Frankreich mit dessen ausgeprägtem Zentralstaat konzentriert, macht es sich Zimmer allerdings gar einfach.
Vertrauen schenken
Gleiches gilt für die Analyse eines nationalistischen Anspruchs in universalistischem Gewand. Dabei setzt Zimmer den Nationalstaat taktisch geschickt in zwei unterschiedlichen Funktionen ein: Gegenüber den supranationalen Anmassungen verteidigt er ihn, zugunsten des Lokalen kritisiert er ihn scharf. Diskurstheoretisch bemerkenswert ist auch, wie er den Soziologen Pierre Rosanvallon und den Philosophen Jacques Rancière als Kronzeugen für seine Kritik benutzt, deren linkssozialistische beziehungsweise neoleninistische Perspektive allerdings unterschlägt. Überhaupt reicht seine Darlegung historisch nicht über den bürgerlichen Rahmen hinaus, innerhalb dessen er zwischen Repräsentationsprinzip und «wahrem» demokratischem Verständnis unterscheidet. Zuweilen wirkt das wie ein Familienstreit. Rätedemokratische Ansätze werden weder in historischer noch in aktualisierter Form auch nur in Betracht gezogen; so wie sich seine Darstellung auf die politische Sphäre beschränkt und Wirtschaftsdemokratie links liegen lässt.
Gesellschaftspolitisch steckt dahinter die alte Gegenüberstellung von Gesellschaft und Gemeinschaft, von verallgemeinerten Rechten und spezifischen Normen. Wohin das führt, zeigen Zimmers Auslassungen zur Migration. So rechtfertigt er die politische Entmündigung von Ausländer:innen und vertraut deren Integration ganz der Mehrheitsgemeinschaft an. «Die (prinzipiell temporäre) Exklusion von Immigranten vom nationalen Bürgerrecht, die in der demokratischen Republik gilt, beruht auf der Erkenntnis, dass menschliches Vertrauen erst allmählich entsteht. […] Diese zeitlich bedingte Exklusion trägt dazu bei, das für das demokratische Leben notwendige Gefühl der Zugehörigkeit entstehen zu lassen.» Da werden sich die Migrant:innen aber freuen, wenn ihnen die Mehrheit nach vielen Jahren endlich das «Vertrauen» schenkt und das «Gefühl der Zugehörigkeit» zubilligt.
Die Beispiele Zimmers für die Gefährdung der Demokratie machen die Schlagseite seiner Analyse deutlich. Die Feindbilder sind: Zentralstaat, Bürokratie, EU und Eliten. Immerhin habe die Initiativdemokratie die Entscheide der Eliten korrigiert bei der Brexit-Abstimmung, bei der schrankenlosen Migration, bei der Rechtsdurchsetzung des «Volkswillens» und bei der (Schweizer) Souveränität. Dagegen habe sich der Zentralstaat bei der Pandemiebekämpfung blamiert. Man sieht: Das ist der rechtspopulistische SVP-Baukasten.
Nach dieser Einstimmung stellt Bruno S. Frey drei konkrete Ideen vor. Zentral ist der Vorschlag, die gesellschaftliche Organisation und deren demokratische Gestaltung von der territorialen Gliederung und insbesondere vom Nationalstaat zu lösen. Frey weist am Beispiel der Schweiz zu Recht nicht nur auf deren föderalistische Struktur, sondern auch auf die bereits bestehende Überlagerung von politischen, Schul- und Kirchgemeinden hin. Das möchte er ins Extrem vorantreiben. Ihm schweben sich vielfach überkreuzende «problemorientierte politische Einheiten» vor für alle öffentlichen, aber auch einige private Funktionen.
Solche Zweckverbände existieren selbstverständlich bereits; aber Frey will, dass sie grundsätzlich im Wettbewerb miteinander stehen. Die Teilnahme an jeder Einheit ist freiwillig, das heisst, die Individuen suchen jeweils das beste Angebot: die Utopie des schrankenlosen Wirtschaftsliberalismus. Allfällige Bedenken zerstreut Frey mit flockigen Phrasen über die Anpassung von Behörden und Amtsträger:innen an die Wünsche der Betroffenen, sprich Kund:innen. Frey geht mit diesem Konzept seit 25 Jahren hausieren. Das vielfältige Marktversagen während dieser Zeit ignoriert er geflissentlich.
Ein Kapitel widmet er dem Mehrheitsstimmrecht. Dessen Dichotomie von Sieg und Niederlage will er durch differenziertere Verfahren ersetzen. Wenn ein Kredit von 100 Millionen Franken für den Bau einer Brücke mit 55 Prozent abgelehnt werde, dann sollte für die unterlegenen 45 Prozent eine abgespeckte Brücke für 45 Millionen gebaut werden. Das führt in skurrile Gedankenspiele. Wenn die Vorlage nur 20 Prozent Ja-Stimmen fände, dann müsste wohl eine Brücke für 20 Millionen Franken gebaut werden, also statt einer zweispurigen Strasse womöglich eine tolle Passerelle für Velos und Fussgänger:innen – ökologisch gesehen wäre das ja durchaus ein wünschenswertes Resultat. Wobei die 20 Prozent der Zustimmenden, die eine grosse, schöne Autobrücke wollten, mit einem Veloweg nicht gerade zufrieden wären. Anwendbar wäre das Verfahren nur, wie Frey einschränkt, wenn eine Frage «sinnvollerweise flexibel formuliert werden kann». Flexibel heisst: ökonomisierbar. Marktmechanismen würden dadurch weiter gestärkt.
Akademiker reden fürs Volk
Als Gedankenanstoss lesen lässt sich der Vorschlag, Wahlen durch Losverfahren zu ersetzen. Zwar stimmt Freys Versprechen, die unterschiedlichen Meinungen in einem Wahlkörper würden durch ein Losverfahren «automatisch» abgebildet, mathematisch nur für einen längeren Zeitraum. Aber Losverfahren in klar umgrenzten Bereichen könnten erstarrte Strukturen durchaus zum Tanzen bringen.
Grundsätzlich lasten Zimmer und Frey die Korrumpierung der Demokratie allein den staatlichen Instanzen an, die private Verfügungsgewalt bleibt aussen vor. Idealbild sind die mündigen Konsument:innen, die sich der demokratischen Angebote bedienen. Dass soziale Ungleichheiten die «Teilhabe aller» einschränken, wird ignoriert.
Eine Pointe liegt im Kampf gegen die angeblichen Eliten, den die Autoren so leidenschaftlich beschwören. Zwei Akademiker reden fürs einfache Volk; so wie sich der Milliardär aus Herrliberg als Volkstribun verkauft. Das ist der letzte Etikettenschwindel dieses lehrreichen Buchs.
Bruno S. Frey, Oliver Zimmer: «Mehr Demokratie wagen. Für eine Teilhabe aller». Aufbau Verlag. Berlin 2023. 158 Seiten. 30 Franken.