Bildung in Ungarn: Patriotismus, Fehler und Propaganda
Jeden Mittwoch gehen in Ungarn Lehrer:innen auf die Strasse. Sie protestieren gegen ihre prekären Arbeitsbedingungen und die Politisierung der Bildung.
Als die Ampel am Zebrastreifen auf Grün schaltet, stellen sich fünfzig Menschen in den Pester Morgenverkehr. Es ist ein verhangener Mittwochmorgen Ende März am Ferenciek Tere, einem Platz im Herzen der ungarischen Hauptstadt, wo die Strassen stark befahren und die Kaffeehäuser teuer sind. Von beiden Seiten des Fussgängerstreifens eilt ein Protestzug mit Schildern und Fahnen in die Mitte der Strasse. Solange die Ampel Grün zeigt, bleiben die Schüler:innen, Lehrpersonen und Eltern stehen. Manche der müden Gesichter hinter den Autofenstern formen sich zu einem Lächeln, einige winken, hupen. Andere tun gestikulierend ihre Ablehnung kund. Den hupenden Motorradfahrer:innen winkt man zurück, die schimpfenden Passant:innen lässt man durchgehen.
«Zebraproteste» nennen die Demonstrierenden solche Aktionen. Immer mittwochs werden überall in der ganzen Stadt gleichzeitig die Fussgängerstreifen geentert, um von der Regierung eine andere Bildungspolitik zu fordern. «Ohne Lehrer keine Zukunft!», steht auf einem der Schilder der Protestierenden, «Streik ist ein Grundrecht» auf einem anderen. Das Ganze hat Happeningcharakter. Man kennt sich. Während die Ampel auf Rot steht, führt man am Strassenrand Gespräche und wartet auf die nächste Grünphase.
Überlastet und unterworfen
In Richtung Westen führt die Strasse nach Buda, dem kleineren Teil der Stadt auf der rechten Seite der Donau. Hier, wo einst der König im Burgpalast residierte und heute Premierminister Viktor Orbán regiert, nahmen die Zebraproteste ihren Anfang. Die Englischlehrerin Szilvia Varanyi Imre sitzt in einem Café vor einem Bücherregal. «Nach dem Protestieren am Morgen gehen die Schüler:innen und Lehrer:innen direkt zur Schule», sagt sie. Sie lächelt wehmütig – denn sie selbst wird heute keinen Unterricht geben. Vor kurzem hat die 53-Jährige ihren Job an einem Gymnasium in Budaörs, etwas ausserhalb der Hauptstadt, gekündigt. Die Entscheidung sei ihr nicht leichtgefallen, sagt Imre.
Ende September und im Dezember 2022 wurden in Ungarn insgesamt dreizehn Lehrer:innen entlassen, weil sie Kritik an der herrschenden Bildungspolitik geübt oder gegen das zu Beginn des Jahres ausgehöhlte Streikrecht verstossen hatten. Dieses verbietet faktisch die Arbeitsniederlegung. «Anstatt uns zuzuhören, entlassen sie uns», sagt Imre. Nachdem alle kritischen Lehrer:innen damals einen Drohbrief erhalten hatten, entschied sie, umso mehr zivilen Ungehorsam leisten zu wollen – und reichte mit zwei Kolleg:innen die Kündigung ein. Sie könne die Missstände nicht mehr guten Gewissens hinnehmen, sagt Imre. Der Durchschnittslohn der ungarischen Lehrpersonen stagniere bei umgerechnet 800 Euro, und das bei einer Lebensmittelinflation von 45 Prozent. Mit 26 Unterrichtsstunden pro Woche plus Vor- und Nachbereitungszeit sei die Arbeitsbelastung zudem hoch, und wegen Lehrer:innenmangel fielen immer mehr Aushilfsstunden an.
Ihre Forderungen haben die Lehrer:innen in neun Punkten zusammengefasst, und zwar gemeinsam mit Student:innen und der pädagogischen Gewerkschaft. Es geht um höhere Löhne, um die Autonomie in der Lehre, um eine Demokratisierung der Bildungspolitik. Doch die Regierung stellt sich quer. Nach den Wahlen im April 2022 unterstellte sie die Bildungspolitik dem Innenministerium. «Ich verstehe nicht, wieso Orbán eine solch untragbare Situation erstrebenswert findet», sagt Imre. Eine These laute, dass es für eine autoritäre Regierung vorteilhaft sei, wenn die Leute überbeschäftigt und ständig unter Druck seien. Sie hätten dadurch kaum Zeit, sich zu wehren.
Szilvia Varanyi Imre wirkt verzweifelt, und das hat nicht nur mit der Gegenwart zu tun: Die Mehrheit der Lehrer:innen in Ungarn seien vierzig, meistens über fünfzig Jahre alt. Sie hätten den Sozialismus noch erlebt, genau wie sie selbst. «1989 war ich zwanzig Jahre alt», sagt Imre. «Ich war überzeugt, dass mein Leben in einem demokratischen Ungarn weitergehen, dass es besser werden würde. Für uns ist es eine grosse Enttäuschung, was nun geschieht.»
Punktesystem und Überwachung
In einem T-Shirt mit regierungskritischem Aufdruck steht Erzsébet Nagy vor dem prunkvollen ungarischen Parlament und verwickelt drei Polizisten in ein Gespräch. «Die Polizei überwacht mich sowieso», sagt die 64-jährige Gewerkschafterin, die hautnah miterleben musste, wie Orbán den demokratischen Aufbruch nach 1989 Schritt für Schritt in sein Gegenteil verkehrt hat. Seit 1991 arbeitet Nagy für die pädagogische Gewerkschaft PDSZ. «Heute werden wir als die Roten angesehen, obschon wir früher auch gegen die sozialistische Regierung kämpften.» Als sich Viktor Orbán mit seiner rechtsnationalen Fidesz-Partei 2010 zum ersten Mal die für Verfassungsänderungen notwendige Zweidrittelmehrheit im Parlament sicherte, begann der Umbau des Staates, den er 2014 in einer Rede stolz als «illiberale Demokratie» bezeichnete. Politolog:innen stufen Ungarn heute als Wahlautokratie oder Demokratur ein.
Der kontinuierliche Abbau von Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit griff bald auch auf die Bildungspolitik über. 2012 liess Orbán das Klebelsberg-Institut ins Leben rufen, eine zentrale Behörde, die die nationalen Lehrpläne ausarbeitet und der die über 120 000 Lehrer:innen und alle staatlichen Schulen im Land unterstehen. «Die Vorsitzende war einst meine Freundin», erzählt Nagy, die seit einigen Monaten erfolglos mit dem Innenministerium zu verhandeln versucht und dafür öffentlich diffamiert wird. Dabei liessen sich die Probleme vor den Menschen doch gar nicht verstecken: «Die Kinder gehen nach Hause und erzählen den Eltern, dass die Physikstunde schon wieder von der Musiklehrerin übernommen werden musste – oder sogar von der Putzfrau!» Darüber hinaus seien die Schulbücher heute durchzogen von sachlichen Fehlern, Patriotismus und der Propagierung traditioneller Familienbilder.
Das neue Streikrecht nennt Gewerkschafterin Nagy «dadaistisch», doch noch schlimmer sei ein neues Gesetz, das im Juni eingeführt werden und den Lehrer:innen den Status als Beamte absprechen soll. Geplant ist auch ein Punktesystem, um die Qualität ihrer Arbeit zu messen. «Diejenigen, die gut arbeiten, sollen dann mehr Geld erhalten», erklärt Nagy. Sie ist wütend. «Wer bestimmt dann diese Kriterien? Die Orbán-Regierung. Für sie heisst das: Loyalität, Benehmen, politischer Gehorsam – auch beim öffentlichen Auftritt in den sozialen Medien.» Das neue Gesetz soll zudem die Überwachung der Lehrer:innen ermöglichen. Die PDSZ will das nicht hinnehmen: «Wir werden damit bis nach Strassburg gehen», sagt Nagy.
Machtkampf mit der EU
«Ich habe es gewagt, die christlichen Konservativen zu fragen / in meiner ‹Ein Vater ist ein Mann, eine Mutter ist eine Frau›-Schule / Frau Lehrerin, was halten Sie von den Protesten?»
Diese Zeilen ihres regierungskritischen Slams hat die achtzehnjährige Lili Pankotai am 23. Oktober auf der Bühne einer Protestkundgebung vorgetragen. Welchen Aufruhr sie damit auslösen würde, ahnte sie damals nicht. Pankotai sitzt zwischen Bücherregalen in einem Café in Buda vor ihrem Laptop, sie lernt gerade für ihre Abschlussprüfungen. «Meine Rede war pointiert», sagt sie über ihren Rundumschlag gegen die Bildungspolitik, das gleichgeschaltete Mediensystem und Orbáns Nähe zu Russlands Präsident Wladimir Putin. Regierungsnahe Medien warfen ihr Obszönität und Vulgarität vor, die nicht mit christlichen Werten vereinbar seien. Ihr Gymnasium in Pécs im Süden des Landes, eine christliche Schule, veröffentlichte ein Statement, um sich von Pankotai zu distanzieren.
Anfangs habe sie das alles nicht allzu sehr belastet. Aber der Druck stieg, das traditionsreiche Gymnasium drohte ihr mit Rauswurf. Und es zwang sämtliche Lehrer:innen dazu, ihre Haltung zu Pankotai darzulegen. «Von da an war vielen von ihnen klar, dass sie mich nicht offen werden unterstützen können», erzählt diese. Sogar manche Schüler:innen hätten sich gegen sie gewandt. Und schliesslich sei sie vor die Wahl gestellt worden: entweder Proteste oder Schule. «Weinend verliess ich nach einem Gespräch den Raum und entschied, nicht mehr zurückzukehren», sagt Pankotai. Ihren Abschluss macht sie nun in Budapest.
Lili Pankotai steht für eine ganze Generation ungarischer Schüler:innen, die nicht bereit sind, die Repression zu akzeptieren. Viele wollen das Land nach dem Gymnasium verlassen – oder aber gegen die Politik der Regierung kämpfen. Diese sieht sich mit wachsenden finanziellen Problemen konfrontiert: Wegen Korruptionsverdacht entschied die EU vor kurzem, 22 Milliarden Euro an Fördergeldern einzufrieren und das Erasmus-Programm für 21 ungarische Universitäten zu sistieren. Erst wenn sich die EU bewege, werde wieder mehr Geld in die Bildung fliessen, argumentiert Orbáns Regierung. Für die protestierenden Schüler:innen ist der Versuch, die Verantwortung auf Brüssel abzuschieben, blanker Hohn: Sie wollen die marode Infrastruktur an den Schulen, den Lehrer:innenmangel und die ideologisierten Lehrpläne, in denen antisemitische Autoren glorifiziert werden, das Königreich Ungarn vor dem Vertrag von Trianon 1920 beschworen und der Hitler-Kollaborateur Miklós Horthy verherrlicht wird, nicht länger hinnehmen.
Im kollektiven Trauma
Umgekehrt projiziert die Regierung viel auf die protestierenden Schüler:innen, Lehrer:innen und Eltern: Von George Soros seien diese finanziert, dem jüdischen Investor und Orbáns bevorzugtem Sündenbock, von dem er in jüngeren Jahren einst selbst ein Stipendium erhalten hat. Ein Vorwurf, den Edina Hajnal bestens kennt: Sie ist Mitglied des Müttervereins Magyar Anyák, «Ungarische Mütter».*
Hajnal ist freie Wissenschaftlerin in Szeged, Ungarns drittgrösster Stadt im Süden des Landes. An der hiesigen Universität wurde sie aber entlassen. «Wegen meiner Ansichten», sagt Hajnal. Im Herbst solidarisierte sie sich mit den protestierenden Lehrer:innen, als diese ihre niedrigen Gehälter öffentlich machten – und sie rief andere Eltern dazu auf, Teil der zivilen Opposition gegen Orbán und dessen Regierung zu werden. Viele hätten sich den Magyar Anyák angeschlossen. «Wir zahlen Steuern für das Bildungssystem, und das ist, was wir erhalten?», hätten sie sich gefragt.
Wegen der schlechten Zustände an den staatlichen Bildungseinrichtungen würden heute viele Eltern Geld sparen, um ihre Kinder an eine Privatschule schicken zu können, erzählt Edina Hajnal. Sie erinnert sich an bessere Zeiten nach der Jahrtausendwende, als sie selbst ihr Studium begann. «Eine aufblühende Zeit», sagt sie über Ungarns EU-Beitritt 2004. «Wir waren so euphorisch. Auf allen Ebenen. Doch nach 2010 ist die ganze Hoffnung zusammengebrochen.» Sie attestiert dem Land ein kollektives Trauma, das in die Zeit des Sozialismus zurückgehe und das bis heute noch nicht überwunden sei. Die Leute hätten Mühe, sich solidarisch zu zeigen oder sich zu wehren: «Das hängt auch damit zusammen, dass wir in einer Kultur der Gewalt und des Verdrängens leben», sagt Hajnal. Entsprechend leichtes Spiel habe Viktor Orbán mit seiner nationalkonservativen Ideologie gehabt.
Zumindest bis jetzt. Nun protestierten viele junge Menschen, die erst nach 1989 geboren worden seien und denen die Enttäuschung von 2010 nicht derart tief im Nacken sitze, sagt Hajnal. Und sie hofft, dass es mit diesem Schwung endlich möglich wird, das Ruder in Ungarn wieder herumzureissen.
* Korrigenda vom 15. Mai 2023: In der Printversion sowie in der alten Onlineversion steht fälschlicherweise, Edina Hajnal sei Gründerin des Müttervereins. Korrekt ist: Sie ist Mitglied von Magyar Anyák.