Durch den Monat mit Gracie Mae Bradley (Teil 1): Was sind nicht­reformistische Reformen?

Nr. 18 –

Die britische Umwelt- und Menschenrechtsaktivistin Gracie Mae Bradley kämpft für eine Welt, in der es keine Grenzen mehr braucht. Das System der Grenzen solle sukzessive schrumpfen.

Portraitfoto von Gracie Mae Bradley
Gracie Mae Bradley: «Nichtreformistische Reformen verbessern nicht einfach bestehende Verhältnisse etwas, sondern bringen die Kampagne für eine Abschaffung von Grenzen voran.»

WOZ: Frau Bradley, Sie verfolgen die britische Flüchtlingspolitik seit vielen Jahren. Derzeit macht die Regierung mit ziemlich krassen Vorschlägen Schlagzeilen, sie will etwa Geflüchtete künftig nach Ruanda abschieben. Worauf zielt sie ab?

Gracie Mae Bradley: Die Migrationspolitik wird immer extremer. Die britische Regierung versucht, das territoriale Asyl abzuschaffen, also das Prinzip, dass jede und jeder nach Grossbritannien kommen und sagen kann: Ich will hier Schutz suchen. Die Regierung sagt: Wer über eine irreguläre Route kommt, zum Beispiel per Boot über den Ärmelkanal, kann kein Asyl beantragen. Und die regulären, sicheren Routen sind in den vergangenen Jahren fast alle geschlossen worden. Wer es trotzdem nach Grossbritannien schafft, soll in ein «sicheres Drittland» abgeschoben werden, also etwa nach Ruanda. Aber diese Politik läuft der Flüchtlingskonvention von 1951 völlig zuwider.

Innenministerin Suella Braverman spricht von einer «Invasion» durch Migrant:innen.

Das sind sehr gefährliche Worte. Wir sehen derzeit, dass Rechtsextreme zunehmend gewalttätig werden – sie fühlen sich durch eine solche Rhetorik ermutigt. Die Gewalt des Staates sehen wir schon lange: Flüchtlinge werden in Auffanglagern festgehalten, man verweigert ihnen den Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, man schiebt sie ab. Aber seit vergangenem Herbst kommt Gewalt durch Rechtsextreme hinzu: Ein Migrant:innenzentrum in Dover wurde zum Ziel eines Brandanschlags, einige Monate später gab es einen Krawall vor einem Hotel bei Liverpool, in dem Geflüchtete untergebracht sind.

Braverman ist nicht die Erste, die gegen Migrant:innen hetzt. Seit mindestens zwei Jahrzehnten bedienen sich britische Regierungen – sowohl Labour als auch Tories – einer feindseligen, ausschliessenden, rassistischen Rhetorik. Diese Regierung geht einfach einen Schritt weiter und zieht die logischen Schlüsse aus dieser Rhetorik.

Braverman sagt, sie tue lediglich das, was die Mehrheit der Brit:innen wolle. Stimmt das?

Nein, überhaupt nicht. Umfragen zeigen, dass es keine Mehrheit für die «Ruandapolitik» gibt. Zudem haben wir in den vergangenen Jahren viele Akte der Solidarität mit Migrant:innen gesehen. Hier in Glasgow und in London haben Bürger:innen Razzien der Migrationsbehörden durch Widerstand auf der Strasse verhindert. Andere haben ihre Freiheit aufs Spiel gesetzt, um Ausschaffungsflüge zu stoppen. Und es gibt unzählige Leute, die in ihrer Freizeit in Sozialzentren und anderen öffentlichen Räumen arbeiten und Geflüchteten Rechtsberatung oder moralische Unterstützung bieten.

Sie selbst haben letztes Jahr das Buch «Against Borders» geschrieben, in dem Sie für die Abschaffung aller Grenzen plädieren. Das scheint derzeit eher utopisch…

Mein Mitautor Luke de Noronha und ich stützen uns auf die abolitionistische Tradition, die vor allem von Schwarzen Organizer:innen in den USA entwickelt wurde – den dortigen Aktivist:innen geht es vor allem um die Abschaffung von Gefängnissen. Wir sagen nicht: Schaffen wir die Grenzen jetzt ab, in dieser Welt, so wie sie jetzt ist. Stattdessen lassen wir uns von der Frage leiten: Was für eine Welt müssen wir schaffen, damit Grenzen nicht mehr nötig sind? Abolitionist:innen denken nicht einfach über utopische Ideale nach: Es ist eine praktische Organisationsstrategie. Wir wollen hier und jetzt Veränderungen bewirken – und jede Veränderung bringt uns näher an eine Welt, in der es keine Grenzen mehr braucht.

Was sind das für Veränderungen?

Wir müssen uns überlegen, was unsere Gesellschaft braucht, um zu florieren. Grenzen werden als Lösung für viele Probleme präsentiert, aber sie halten nicht, was sie versprechen. Sie halten keine Menschen davon ab, hierherzukommen – die Menschen migrieren noch immer, nur haben sie immer weniger Rechte. Grenzen können auch nicht verhindern, dass unser Service public überfordert ist oder dass wir eine akute Wohnungskrise haben. Das Problem ist nicht die Migration. Das Problem ist, dass wir nicht genug Geld dort investieren, wo wir es brauchen. Einerseits geht es also darum, dem Innenministerium Geld zu entziehen und in den Ausbau des Sozialstaats zu stecken. Zudem fordern wir in der Migrationspolitik sogenannte nichtreformistische Reformen.

Was heisst das?

Das sind Reformen, die nicht einfach bestehende Verhältnisse etwas verbessern, sondern die Kampagne für eine Abschaffung von Grenzen voranbringen. Nehmen wir zum Beispiel die Rechte von Migrant:innen – das Recht auf Arbeit, Gesundheitsversorgung, Wohnraum und so weiter; insbesondere für Asylbewerber:innen gelten hier starke Beschränkungen. Aber wir fordern nicht, dass mehr Leute den britischen Pass erhalten sollen, damit sie rechtlich bessergestellt sind. Wir halten es für sinnvoller, diese grundlegenden Rechte auf alle Menschen auszuweiten, die hier leben, ungeachtet ihres Einwanderungsstatus. Das würde die Rolle der Einwanderungsbehörden stark eingrenzen. Unser Ziel ist es, das Grenzsystem sukzessive schrumpfen zu lassen.

Gracie Mae Bradley (32) ist Direktorin von Friends of the Earth Scotland. Sie ist Mitautorin des Buches «Against Borders. The Case for Abolition» (Verso Verlag, 2022). In ihrer Freizeit schreibt sie Kurzgeschichten und macht Radierungen.