Rechter Populismus: Zur Normalität des Stillstands
«Normal», das sind immer die anderen: Die Historikerin Sarah Chaney untersucht die ausschliessende Wirkung eines vermeintlich harmlosen Begriffs.
Dass Bücher die Wahrnehmung verändern, ist der Traum jeder Autorin, jedes Autors, aber es ist nicht normal. Der britischen Historikerin Sarah Chaney gelingt das mit ihrem Buch «Bin ich normal?».
Es schärft die Wahrnehmung und forciert eine skeptische Sensibilität gegenüber Leuten, die sich selbst als normal bezeichnen oder, schlimmer noch, als Normalo. Also Leuten, die sich als normal inszenieren, denn das Normale ist selten normal im Sinne von natürlich, sondern meistens inszeniert, arrangiert, konstruiert. Chaneys Buch dekliniert materialreich zwei gegensätzliche Haltungen gegenüber dem Normalen durch: hier den guten, alten Widerwillen gegen die «Diktatur der Angepassten», von der Blumfeld sangen – dort die neue Affirmation des Normalen auf Kosten der anderen, die Normen nicht entsprechen können oder wollen.
Kinks im Pop
Nehmen wir einen ganz normalen Nachmittag im April. Spülmaschine ausräumen, Radio an. Das Informationsprogramm des Hessischen Rundfunks berichtet über den Messerangriff in einem Fitnessstudio in Duisburg. Gesucht werde ein Mann mit südländischem Aussehen, langer schwarzer Bart – Racial Profiling im Öffentlich-Rechtlichen? Quatsch, normale Wiedergabe des Polizeiberichts. Aus den Informationen «Messer», «südländisch», «Vollbart», «Duisburg» (Marxloh, berüchtigter Ghettostadtteil! Schimanski, Tatort Duisburg!) puzzelt sich das Hirn den ganz normalen Islamisten zusammen. Bevor man darüber nachdenken kann, erzählt der Moderator aufgekratzt von diesem Internet, das ja ein unendliches Feld sei, in dem man sich tagelang verlieren könne. Das aber auch Gefahren berge! Ein falscher Klick, und schon bist du dein Geld los! Um solche Gefahren gehe es bei einem Kongress zu Cybersicherheit in … Spülmaschine ausgeräumt, Radio aus. Zehn Minuten an einem normalen Nachmittag: Ist das noch normal?
«Bin ich normal?», fragt Sarah Chaney. «Warum wir alle von dieser Frage besessen sind und wie sie Menschen abwertet und ausgrenzt.» Chaney wird nicht müde nachzuweisen, dass das Normale keineswegs das Durchschnittliche ist, nicht bei den Körpermassen, nicht bei Geschlecht und Hautfarbe, Klasse und Race.
Die Autorin gräbt sich durch (populär)wissenschaftliche Arbeiten derer, die über Jahrhunderte das Normale definiert haben und vor allem die Grenzen des Normalen: Ärzte, Psychiater, Soziologen. «Natürlich (noch so ein n-naher Begriff) waren weisse Männer die Norm, mit der Angehörige anderer Ethnien verglichen wurden. In der spätviktorianischen Zeit wurde der weisse Mittelschichtsakademiker zum neuen Durchschnittsmenschen. Er – denn der normale Standard blieb auch weiterhin männlich – war Arzt, Wissenschaftler, Schriftsteller, Bankier, Kaufmann, Anwalt oder Geschäftsmann. Statistisch betrachtet war er nicht unbedingt der am weitesten verbreitete Typus, dennoch galt er als das gesunde Ideal, an dem alle anderen gemessen wurden.»
Beim gesunden Ideal lauern auch: der gesunde Menschenverstand, das gesunde Volksempfinden. Rund um das «N-Wort» gesellt sich eine inzestuöse Grossfamilie aus Synonymen und Ersatzwörtern, etwa die herablassende Rede von den «einfachen Leuten». «Endlich kann man wieder aus der Perspektive des gesunden Menschenverstands sprechen.» So kommentiert Thomas Biebricher die neurechte Aus-dem-Bauch-Politik in seinem Buch «Mitte/Rechts. Die internationale Krise des Konservatismus». Dieser reagiere erst, wenn er getriggert werde, «wenn andere die Verhältnisse revolutionieren. Konservative halten dagegen im Namen des ‹Natürlichen› oder ‹Normalen›.»
Mit der modernen Popkultur nach dem Zweiten Weltkrieg blüht der Nonkonformismus, Coolness definiert sich über Anderssein. «I’m Not Like Everybody Else», singen die Kinks 1966 – das identitätspolitische Credo einer Band, die die Normabweichung schon im Namen trägt. Kink heisst Macke, Schrulle, Tick, das Adjektiv «kinky» verrückt das Abnormale ins Sexuelle: pervers. In «Bin ich normal?» mobilisiert Chaney auch begründete Allergien gegen die neuen Adept:innen des Normalen. Mit dem Antrittsgruss «I’m the normal one» fischte sich der Deutsche Jürgen Klopp erste Komplimente als Trainer in Liverpool (Fussball und die identitären Konstruktionen des Normalen, das wäre ein eigenes Buch). Die vielgestaltige Normalität, von der Chaney spricht, wird im Alltag konstruiert – und konstituiert.
Deutschland normal
Wenn Leute «wir» sagen, ohne ihr eigenes Verhältnis zu diesem «wir» zu erläutern, ist Vorsicht geboten. Oft sprechen sie im Namen eines eingemeindenden, homogenisierenden «wir», das Gruppen ausgrenzt, die nicht zum «wir» gehören. Beispiel? «Wir sind das Volk!» Eine Parole mit deutsch-deutscher Vergangenheit, die heute nicht mehr zu haben ist ohne den (mitgedachten) Nachsatz «Und ihr nicht!». Wenn deutsche Normalos ihre völkische Identität rausposaunen, um gegen Coronamassnahmen zu demonstrieren oder Busse mit Geflüchteten aus Syrien (Vollbärte) zu begrüssen, dann praktizieren sie identitätspolitisches «Othering», das Markieren des Anderen, das sich ausserhalb des Normalen befindet.
Die neuen Normalist:innen propagieren eine Normalität des Stillstands. Am Status quo darf sich nichts ändern, nicht durch den Zuzug Fremder, nicht durch neue Geschlechter, neue Speisen und Getränke, neue Pronomen und Wörter. Vor allem soll sich nichts ändern durch Verbote und Vorschriften, die uns daran hindern, so normal zu leben, wie wir es immer getan haben. «Deutschland – aber normal», mit diesem Slogan ist die Alternative für Deutschland angetreten gegen die drohende De-Normalisierung unseres Lebens, die Zersetzung unseres Volks(körpers) durch ideologische Konstrukte wie Political Correctness, Cancel Culture, Wokeness.
Aggressiver Normalismus gehört zur Grundausstattung des neurechten Populismus in den aktuellen Kulturkämpfen. Neue Rechte? Im antiwoken Mainstream mit Anti-Mainstream-Habitus schwimmen nicht nur ausgewiesen rechte Politiker:innen mit, von Markus Söder bis Alice Weidel, sondern auch öffentliche Figuren, die die Zuschreibung «rechts» empört von sich weisen, ganz einig mit ihrem Auditorium. Der Kolumnist Harald Martenstein unterhält im «Zeit Magazin» sein akademisches Publikum mit bizarren Anekdoten aus der seltsamen Welt der «Woke Warriors». Der Comedian Dieter Nuhr belustigt seine Fans, die so normal performen, dass sie die Bezeichnung «Normalo» als Kompliment empfinden dürften, mit den ewig gleichen Satiraden von der grassierenden Cancel Culture. Dass die Normal-Nuhr-Gucker:innen darüber lachen, ohne sich zu fragen, warum Nuhr immer mehr Sendezeit bekommt, statt gecancelt zu werden, ist ein medialer Treppenwitz.
Wie immer, wenn Politiker:innen sich volkstümelnd an Menschenmassen ranschmeissen, ist Vorsicht geboten, wenn sie im Namen sogenannter normaler Menschen sprechen. Komischerweise sprechen diese normalen Menschen so gut wie nie von sich selbst als normalen Menschen. Normal, das sind immer die anderen, die man als volkstümliche:r oder gleich völkische:r Politiker:in vor den allfälligen Angriffen auf ihren qua Tradition normalen Way of Life schützen muss. Dabei wusste doch schon Brecht, dass das Volk nicht tümlich ist. Beim Erkennen und Verstehen des Neonormalismus hilft das Buch von Sarah Chaney.
Sarah Chaney: «Bin ich normal? Warum wir alle von dieser Frage besessen sind und wie sie Menschen abwertet und ausgrenzt». Goldmann Verlag. Leipzig 2023. 352 Seiten. 28 Franken.