Ein Traum der Welt: Immer noch Krieg
Annette Hug in den Wirren der Erinnerung
Im Roman «Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana» setzt Umberto Eco einen Mann in Szene, der sein persönliches Gedächtnis verloren hat. An allgemeine Botschaften, zum Beispiel die Comics, die er als Jugendlicher im faschistischen Italien der dreissiger Jahre gelesen hat, erinnert er sich noch genau, aber an seinen eigenen Namen nicht mehr. Wen er geliebt hat und was er im Krieg trieb, ist alles weg. Als ich den Roman 2006 in der Übersetzung von Burkhart Kroeber las, fand ich die Anlage etwas konstruiert. Ich dachte, das partielle Vergessen sei ein plumper Trick, um ein Leben und den Krieg mithilfe jener Comic-Hefte erzählen zu können, aber den Roman las ich dann doch, weil er mit tollen Bildern aus den alten Heften illustriert war.
Jetzt, da ich im Pflegeheim miterlebe, wie sich die Erinnerung an ein individuelles Leben auflöst, erscheint Ecos Fiktion nicht mehr so unrealistisch. Denn auch wenn nicht mehr klar ist, wer ich eigentlich bin, so bleibt das historische Geschehen erstaunlich präsent. («Bist du nicht die Schwester von Hans?» – «Nein, die Tochter.» – «Schwester und Tochter ist dasselbe.») Fast alle Namen haben sich aufgelöst, aber Schlagertexte bleiben. («Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst.») Auch Dialekte sind noch einwandfrei zuzuordnen. Wenn also die neue Stationsleiterin durch den Flur hetzt und nur ganz kurz grüsst, sichtlich ausser Atem, dann ruft man ihr hinterher: «Wir schaffen das!» Sie ist ja aus Deutschland, aus dem Osten, und dass nicht alles rundlief, «als der Osten den Westen küsste», das ist bekannt.
«Die Alte ist wieder älter geworden», kommentiert man den jüngsten Zusammenbruch. Man zeigt auf seinen Kopf und sagt: «Was da oben alles abgeht, ist eine Sauerei. Verantwortungslos.» Aber die Station, die manchmal ein Dorf ist, bietet da und dort Steine, die man wiedererkennt. Man kann sich da draufsetzen.
Und wenn alle Worte durcheinandergehen, wenn «reden» gleich zu «Rädern» wird und der wilde Handel mit dem Geschirr auf den Wägelchen, die vorbeifahren, zum Verrücktwerden ist – «so wie der Lippenstift auf all den Gesichtern, wie der Teufel» –, dann hilft nur noch ein Händedruck, sich aneinander festhalten, sich wortlos mit Blicken versichern, dass man sich nicht verliert. «Ich bin plemplem», sagt man, «ich hab kein Klickklack, aber ich habs gut empfunden.»
Was ganz klar bleibt in der Erinnerung, ist der Krieg und dass dann Flüchtlinge kamen aus dem Osten. Dass der Himmel rot war von den Bomben. Dass das kein Ende nahm. Und es nimmt kein Ende, denn Flüchtlinge ertrinken, sagt man in einem Moment, in dem der Blick ganz klar wird und eindringlich. Bevor ein Schatten übers Gesicht geht: «Die ganze Insel Rügen ist untergegangen.»
In solchen Momenten scheinen sich die nächtlichen Fernsehbilder eines explodierenden Munitionsdepots in Chmelnyzkyj und Rauch über Khartum mit weiteren Kriegen zu vermengen, auch mit vergessenen, mit allen Vertreibungen und Schwelbränden. Sie dröhnen in drei Wörtern, die sich immer dann einstellen, wenn nicht mehr klar ist, wer noch lebt, wer nicht, und wer das eigentlich war, dieser Vater, die Kinder. Sie sind alle «im Krieg geblieben». Der Krieg ist ein Loch und frisst alle Erinnerungen, bis er allein übrig bleibt.
Annette Hug ist Autorin und Angehörige, die feststellt, dass der breitflächige, pausenlose Personalwechsel auf einer Pflegestation auch Menschen mit ordentlich funktionierendem Gedächtnis überfordert.