Fotografie: Stillstand bei voller Fahrt

Nr. 21 –

Jahrelang war Michele Limina als Agenturfotograf im In- und Ausland tätig. Zurück in der Schweiz, fällt sein Blick auf scheinbar unbedeutende Kulissen – zum Beispiel Autobahn-Lärmschutzwände.

Lärmschutzwand an einer Autobahn: zwischen St. Margrethen und Rorschach
Zwischen St. Margrethen und Rorschach.

Die Autobahn bietet immer wieder grossartige Szenerien für Filmstoffe. Während sie in Roadmovies US-amerikanischer Prägung nicht selten eine Art Freiheit suggeriert, zeigen andere Streifen die Unfreiheit, die der Bau von Autobahnen für viele Menschen mit sich bringt. Ein grossartiges Beispiel dafür ist der Spielfilm «Home» (2008) der Westschweizer Regisseurin Ursula Meier, in der sie das Schicksal einer Familie erzählt, die direkt an einer halb fertigen Autobahn wohnt.

Über die künstlerische Qualität von Autobahnen lässt sich gelinde gesagt streiten, zumal sie, abgesehen von den kolossalen Umwelt- und Klimaschäden, ganze Landschaften zerstören und die Umgebung auch noch chronisch mit Lärm belästigen. Mit der Umstellung auf Elektromobilität wird sich das kaum gross ändern. Messungen haben ergeben, dass die Rollgeräusche der Reifen den Motorenlärm bereits ab zwanzig Kilometern pro Stunde übertönen. Und so werden diverse Autobahnpassagen wohl noch lange von Lärmschutzwänden gesäumt werden müssen.

Wie aber kommt ein Fotograf, der viele Jahre als Reporter in den verschiedensten Ländern (unter anderem im Kosovokrieg) tätig war, dazu, diese Wände ausführlich zu würdigen? Gäbe es nicht Schöneres, Spannenderes, Wichtigeres?

Lärmschutzwand an einer Autobahn: zwischen Bern und Fribourg
Zwischen Bern und Fribourg.
Lärmschutzwand an einer Autobahn: bei Winterthur
Bei Winterthur.

Kein autofreier Sonntag

Michele Liminas Interesse für die Ästhetik von Zweckbauten und -installationen, die unseren Alltag begleiten, dabei aber kaum je besondere Beachtung finden, begann vor einigen Jahren, als er in die Schweiz zurückkehrte und den hiesigen Wohlstand «mit neuen Augen» sah. Vom immer noch hysterischeren, auf Spektakel ausgerichteten Newsjournalismus hatte er genug. Und so weckten Zweckbauten im öffentlichen Raum seine Aufmerksamkeit – Architektur im weitesten Sinn. Ob Ortsschilder an den Wänden von U-Bahn-Stationen in München, Industriehallen oder Lärmschutzwände: Liminas Bilder lenken den Blick auf Objekte, die nicht eigentlich für gelungenes Design stehen, je nach Sichtweise, Bildausschnitt und Inszenierung aber plötzlich eine fast ikonische Ausstrahlung erlangen.

Auf seinen berufsbedingten Fahrten durch das Mittelland seien ihm zunächst die blauen Linien an der Wand eines Autobahntunnels in der Zürcher Agglo ins Auge gesprungen. Von da an war Limina getriggert. Immer wieder streifte sein Blick vorbeirauschende Lärmschutzwände, zunehmend fasziniert von zuweilen fast künstlerisch anmutenden Geometrien und Farbkompositionen – bis er sich eines Tages, bei strahlend blauem Himmel, sagte: Das wär doch was. Sogleich begann er sich Gedanken darüber zu machen, wie ein solches Unterfangen zu bewerkstelligen wäre: diese Illusion eines Standbilds, fotografiert inmitten von herandonnernden Lastwagen und Karosserien.

Zusammen mit dem Götti seiner Zwillingsbuben fand er die Lösung: Auf der Rückbank installierten sie ein Stativ und darauf eine Kamera mit einem Tilt-Shift-Objektiv, das speziell für Architekturfotos verwendet wird. So fuhr Limina mit offenem Fenster den Wänden entlang – und aktivierte, nachdem er auf die Überholspur gewechselt hatte, um die nötige Aufnahmedistanz zu haben, den Remote-Auslöser. Das Resultat: acht Bilder pro Sekunde, die in ihrer geradezu meditativ anmutenden Grafik wirken, als wären sie einem autofreien Sonntag entsprungen. Und schon gar nicht aus einem Fahrzeug geschossen, das mit hundert Stundenkilometern an den Wänden vorbeiflitzt – wie etwa auf Streckenteilen zwischen St. Margrethen und Rorschach (Seite 15 oben), Bern und Fribourg (Seite 15 unten), bei Winterthur ­(Seite 16 oben), zwischen Fribourg und Bulle (Seite 17 unten) oder in Dietlikon bei Zürich (Seite 17 oben; man beachte die neugierige Strassenlampe!).

Die Serie mit den Lärmschutzwänden ist nur ein Beispiel für Liminas experimentellen Umgang mit Umgebungen, die uns scheinbar vertraut sind. In letzter Zeit ist der 49-jährige Stadtzürcher regelmässig auf seiner Vespa im Limmattal unterwegs. Auch dort, im Industriegebiet zwischen Dietikon und Spreitenbach, sucht er die Schönheit im vermeintlich Hässlichen: «Hollywood liegt vor der Tür – du musst nur die Augen aufmachen.» Nicht selten kommt es vor, dass Passant:innen verwundert stehen bleiben und sich fragen, was ein Fotograf an der Fassade einer Industriehalle so wahnsinnig aufregend finden könnte – oder mitten in der Nacht an den klinisch-grell-weiss aufleuchtenden Zürcher Trambillettautomaten, die er in einer weiteren Serie verewigt hat, auf dass sie nach ihrem absehbaren Verschwinden nicht vollends in Vergessenheit geraten.

Lärmschutzwand an einer Autobahn: zwischen Dietlikon bei Zürich
In Dietlikon bei Zürich.
Lärmschutzwand an einer Autobahn: zwischen Fribourg und Bulle
Zwischen Fribourg und Bulle.

Visionäre Langzeitbelichtung

Ein Misanthrop ist Limina ganz und gar nicht. Fotografisch aber habe sein Interesse am Menschen nachgelassen, sagt er. Umso mehr konzentriert er sich auf die von und für (oder je nach Perspektive gegen) die Menschen gebaute Umwelt. Dabei ist er der Zeit manchmal auch eine Spur voraus. Nicht immer zu seiner Genugtuung, wie sich bei seinem Projekt «Imagine the World without People» herausstellte. Mehrere Jahre arbeitete er daran, historisch aufgeladene und stark frequentierte Plätze mit einem berühmten Bauwerk im zentralen Hintergrund mittels extremer Langzeitbelichtung am helllichten Tag von den Passant:innen «leer zu fegen» und in ihrer reinen Architektur zu zeigen, sodass höchstens noch die eine oder andere verschwommene menschliche Kontur zu erahnen ist. Dann aber kam Corona. Mit den Lockdowns wurde die kunstvoll hergestellte Fiktion real. Unzählige Fotograf:innen lichteten die Plätze kurzerhand in ihrer realen Menschenleere ab.

Ob Limina auch mit der fiktiven Leere vor Lärmschutzwänden die Zukunft vorwegfotografiert hat? Wenn schon, wird es sich wohl eher um einen Stillstand in einer recht fernen Zukunft handeln. Gerade dieser Tage hat der neue Umwelt- und Verkehrsminister dieses Landes ausdrücklich seinen Willen bekundet, weitere Autobahnstrecken bauen zu lassen (vgl. «Sechsspurig in den Klimakollaps»). Irgendwann aber, so will man doch hoffen, werden auch Lärmschutzwände von ihrem ursprünglichen Zweck befreit. Und bestenfalls, ganz stumm und leise, nur noch Kunst sein.

Weitere Bilder aus der Serie und andere Arbeiten des Fotografen: www.limina.ch.