Widerstand gegen die N6: Birkhühner statt Verkehrslärm

Nr. 47 –

Vor fünfzig Jahren wollte der Bund eine vierspurige Autobahn durchs Simmental ins Wallis bauen. Ernst Zbären hat die Opposition dagegen angeführt. Auf einer Zugfahrt entlang der damals geplanten Strecke erzählt er, wie das Projekt gebodigt wurde.

Kundgebung gegen die geplante Autobahn N6, 1978 auf dem Manneberg
«Die Autobahn hätte das Tal total verunstaltet», sagt Ernst Zbären: Kundgebung gegen die geplante Autobahn N6, 1978 auf dem Manneberg. Foto: Ernst Zbären

Der rote Bus ist zum Bersten voll, alle Welt will an diesem heissen Sommertag von Lenk hoch zur Iffigenalp. Ein Vertreter von Lenk Tourismus ist eingestiegen und preist am Mikrofon die Vorzüge der Region in leicht aufdringlichem Ton an. Im zweiten Teil der Strecke ist die Strasse so schmal, dass Kreuzen nicht möglich und das Auf- respektive Abwärtsfahren immer nur halbstundenweise erlaubt ist. In einer Haarnadelkurve wird der Blick frei auf einen mächtigen Wasserfall, der hier hundert Meter in die Tiefe stürzt. Der Chauffeur hält an, damit die Passagier:innen Fotos machen können. Es handelt sich um den Iffigfall, der in diesem Sommer besonders viel Wasser führt.

Die Attraktion ist Teil des Naturschutzgebiets Gelten-Iffigen, weiter oben in den Hängen verstecken sich scheue Birkhühner im Gebüsch. Statt des urtümlichen Rauschens des Wassers könnte heute an diesem magischen Ort das nervöse Gedröhne einer Autobahn zu vernehmen sein. Genau neben dem Iffigfall wäre das Portal für einen zehn Kilometer langen Strassentunnel gebaut worden. Dieser war Teil des Projekts Nationalstrasse N6, die von Spiez im Berner Oberland durchs ganze Simmental hinauf und dann hier durch den Tunnel unter dem Rawilpass ins Wallis geführt hätte.

«Eine strube Sache»

Ein paar Wochen später, es ist inzwischen Herbst geworden, fährt im Bahnhof Spiez ein Zug ein. Die Türen öffnen sich, in einer erscheint ein Mann mit markanter Stirn und winkt. Er war es, der in den 1970er Jahren die Opposition gegen die Simmentalautobahn angeführt hatte. Am Telefon war die Verständigung nicht einfach, da er mit seinen 83 Jahren nicht mehr so gut hört.

Ernst Zbären ist Fotograf und Umweltschützer und ist im Simmental aufgewachsen. «Die Autobahn wäre eine strube Sache gewesen und hätte das Tal total verunstaltet», setzt er in urchigem Berner Oberländer Dialekt an, während der Regionalzug gemächlich Richtung Zweisimmen gleitet. Hier im unteren Teil des insgesamt etwa fünfzig Kilometer langen Tals wäre die Autobahn vierspurig und hauptsächlich der Simme entlanggeführt worden. An dem Fluss gebe es ja nur «Gestäude», das sei doch wertlos, habe man ihm gesagt, erinnert sich Zbären. «Das ist aber nicht wahr», sagt er und zeigt auf ein kleines Auenschutzgebiet, durch das sich heute eine Karawane aus Blech wälzen würde.

Portraitfoto von Ernst Zbären
Ernst Zbären, Fotograf und Umweltschützer Foto: Karin von Känel

Der Berner Regierungsrat behauptete damals, das ganze Simmental sei einstimmig für die Autobahn. Weil Zbären das nicht glaubte, schaltete er im Jahr 1973 im lokalen Anzeiger ein Inserat. Das Echo war ziemlich stark: 320 Leute meldeten sich, um sich gegen das Projekt zu engagieren. Zunächst gründete Zbären ein Aktionskomitee, zwei Jahre später wurde dieses in einen Verein umgewandelt. Es waren auch einzelne Landwirte dabei, die durch das Projekt Land verloren hätten. Der Bund hatte bereits mit dem Landerwerb für die neue Nationalstrasse begonnen.

Der Widerstand im Tal wuchs, laut Zbären bildete sich eine Volksbewegung gegen die Autobahn. In einzelnen Gemeinden gab es Konsultativabstimmungen. Boltigen stimmte als einzige von fünf Kommunen für das Projekt. Die Bevölkerung dort erhoffte sich eine Entlastung der Strasse, die durch ihr Dorf führt. Der Hauptort Zweisimmen aber war dagegen, erklärt Zbären mit einem Blick in seine Papiermappe. Darin sammelt er seine mit Schreibmaschine verfassten Notizen. Und «St. Stäffen», wie die Einheimischen sagen, Zbärens Wohnort St. Stephan im oberen Teil des Tals, sprach sich sogar mit 127 zu 0 Stimmen dagegen aus. Das Dorf wäre durch die Autobahn in zwei Hälften geteilt worden.

Unterstützung von Franz Weber

Die Abstimmungen hatten jedoch keine bindende Wirkung. Schub bekam die Kampagne, als der Verein Pro Simmental 1978 eine Pressefahrt organisierte. Man versammelte die grosse Medienschar, die gekommen war, auf einem Hügel, von dem aus man die Spurführung der Autobahn genau aufzeigen konnte. «Von da an wurde das Thema in vielen Schweizer Zeitungen breit abgehandelt», sagt Zbären, neigt den Kopf zur Seite, nickt zwei-, dreimal und lächelt verschmitzt. Ein wichtiges Argument gegen das Projekt war, dass es den gerade erst ausgebauten Autoverlad auf die Züge der BLS durch den Lötschberg zwischen Kandersteg und Brig konkurrenziert hätte.

Der Zug fährt an einer Matte vorbei, auf der Simmentaler Fleckvieh weidet. Die hell gefleckten Tiere wurden schon im 19. Jahrhundert in die halbe Welt exportiert. Stattliche alte Häuser mit reichen Schnitzereien und Bemalungen zeugen von frühem Wohlstand der Bewohner:innen im Tal. Auch von dieser Matte hätte die Autobahn ein Stück abgezwackt. Zbären kennt die Spurführung fünfzig Jahre später noch fast im Schlaf.

Kleber der Anti-N6-Kampagne: eine Mistgabel durchsticht einen Autobahn
Mit der Heugabel gegen die Autobahn: Kleber der Anti-N6-Kampagne. Schweizerisches Sozialarchiv

Eine Volksinitiative half schliesslich, das Projekt zu bodigen. Einen beachtlichen Teil der 125 000 eingereichten Unterschriften steuerte der Verein Pro Simmental bei, der Grossteil kam jedoch von der Organisation Helvetia Nostra des national bekannten Umweltschützers Franz Weber. Seine Organisation hatte in den Siebzigern schon eine Nationalstrasse am Sempachersee verhindert.

Wie erlebte Zbären die Zusammenarbeit? «Zuerst kam bei Franz Weber immer Franz Weber», sagt er lakonisch. Aber er sei froh gewesen, dass dessen Organisation auf den Zug aufgesprungen sei. Im Gegensatz zu Weber stammt der Simmentaler Umweltaktivist aus einfachen Verhältnissen. Sein Vater arbeitete in einem Holzwerk in St. Stephan, seine Mutter kam aus Lenk. Zbären machte Ende der 1950er Jahre eine Lehre als Maschinenschlosser bei der Maschinenfabrik Oerlikon in Zürich. Übers Wochenende konnte er nicht jedes Mal nach Hause fahren, dafür reichte das Geld nicht. Im Consum-Verein in Zürich kaufte er manchmal Weissenburger Mineralwasser, das ebenfalls aus dem Simmental stammt, es vermittelte dem jungen Zbären in Zürich ein Stück Heimat. Ab und zu nahm er sein Fahrrad und fuhr die 200 Kilometer bis nach St. Stephan mit eigener Muskelkraft – in einem Tag, wie er erst auf Nachfrage sagt.

Widerständige Geologie

In Zweisimmen steigt Ernst Zbären in den Zug nach Lenk. Ab hier wäre die Nationalstrasse zwar nur noch zweispurig geführt worden. Mit ihren Pfeilern, Brücken und Zufahrtsstrassen – Zbären deutet mit dem Zeigefinger einen grossen Bogen für den Zubringer ins Saanenland hinauf ins noble Gstaad an – wäre sie trotzdem ein schmerzlicher Eingriff in Natur und Landschaft gewesen. In Lenk baute man die Talstation der Metschbahn, die hinauf ins gemeinsame Skigebiet mit Adelboden führt. Sie befindet sich ein gutes Stück vom Dorfzentrum entfernt an der Stelle, an der einst die Autobahnausfahrt Lenk-Süd geplant war. Zbären nickt wieder und lacht listig, um anzudeuten, wie absurd das Projekt war. Wer mit dem Zug anreist und zur Seilbahn gelangen möchte, muss deshalb heute zwei Kilometer zu Fuss marschieren oder den Ortsbus benutzen.

Nicht zuletzt kam die Geologie den Gegner:innen zu Hilfe. 1979 drang durch das karstige Gestein auf der Walliser Seite Wasser in einen Sondierstollen für den geplanten Rawiltunnel, wie die Zeitung «Berner Oberländer» schrieb. Es stammte aus dem eineinhalb Kilometer entfernten Tseuzier-Stausee, der in der Folge notentleert werden musste. Sieben Jahre später beerdigte schliesslich das nationale Parlament das Megaprojekt. Über das Volksbegehren wurde gar nicht mehr abgestimmt. «Die Initiative wäre aber zu gewinnen gewesen, wenn man die Sache richtig aufgezogen hätte», ist Zbären überzeugt.

Der Verein Pro Simmental hatte damit sein Ziel erreicht. Er löste sich aber nicht auf, sondern unterstützt weiterhin Projekte im Tal. So spendete er laut Zbären etwa 20 000 bis 30 000 Franken für das Velowegnetz. Dieses kann sich in der Tat sehen lassen, es führt über weite Strecken der zum Teil renaturierten Simme entlang. Zbären wurde auch dank der Bekanntheit, die er mit dem Widerstand gegen die Autobahn erlangt hatte, 1986 für die Grüne Freie Liste in den Grossen Rat des Kantons Bern gewählt. Er bekleidete das Amt bis 2001.

Heute ist er nicht mehr Mitglied der Partei. Er verfolgt die politischen Entwicklungen aber weiterhin, wie er beim Aussteigen am Talende in Lenk verrät. Am Horizont thront das Wildstrubelmassiv mit seinen weissen Flanken, die schon bis weit hinunter mit frischem Schnee gepudert sind. Rechts davon sind Überreste des einst mächtigen Plaine-Morte-Gletschers zu erahnen. Es ist ein sterbender Gletscher. Für zwei Millionen Franken musste dort oben im Eis ein Entwässerungssystem gebaut werden, um zu verhindern, dass die plötzliche Entleerung des Gletschersees im Sommer zu Überschwemmungen im Tal führt.

Dies sind Entwicklungen, die Zbären nachdenklich stimmen. Drei Wochen zuvor war er mit seinem Bruder auf dem Gletscher. Es hat ihn «gelitzt», er sei hingefallen, sagt er und zeigt ein paar Schrammen an seinen Händen. «Es bräuchte viel radikalere Massnahmen für den Klimaschutz», sagte er im Zug noch.