Menschenrechte: Dem uralten Tiger die Zähne gezogen
Endlich wurde am Dienstag die Nationale Menschenrechtsinstitution gegründet – mit jahrzehntelanger Verspätung. Bund wie Kantone hatten sich alle Mühe gegeben, diese zu sabotieren.
Es war kein feierlicher Staatsakt. Keine Bundesrätinnen, keine Staatssekretäre waren zugegen. Die Traktandenliste so nüchtern, wie man sie an der Generalversammlung eines Turnvereins erwartet. Einzig die Örtlichkeit gab einen würdigen Rahmen ab: Man traf sich im Festsaal des Kursaals in Bern.
Rund 150 Personen waren da, und viele von ihnen haben sich jahrelang dafür engagiert, dass dieser Moment Wirklichkeit wurde: dass die Schweiz eine Nationale Menschenrechtsinstitution (NMRI) erhält. In drei Abschnitten des «Bundesgesetzes zur zivilen Friedensförderung und Stärkung der Menschenrechte» sind die Aufgaben der NMRI definiert: Sie soll informieren und dokumentieren, zielgerichtete Forschung zur Gesetzgebung betreiben, Dialog und Zusammenarbeit fördern, Menschenrechtsbildung leisten und Behörden, NGOs und Unternehmen in Menschenrechtsfragen beraten.
Das Gesetz stammt aus dem Jahr 2003 und soll die Einhaltung der «Pariser Prinzipien» ermöglichen, einer Uno-Resolution von 1993, die als Grundlage für die Schaffung nationaler Menschenrechtsinstitutionen dient und deren Aufgaben in Grundzügen festlegt. Genau 120 Länder haben seither entsprechende Institutionen gegründet, darunter beinahe alle EU-Staaten. Die Schweiz ist – auch hier – eines der letzten Länder, die ihre Verpflichtungen endlich erfüllen.
Die grosse Verzögerung
Mit dem Gründungsakt diese Woche ist für die NMRI der Weg frei, um die Arbeit aufzunehmen. Der sechsköpfige Vorstand wird präsidiert von Raphaela Cueni, assoziierte Professorin für Verwaltungsrecht an der Universität Lausanne. Die NMRI ist als Verein konstituiert und agiert, auch das steht im Gesetz, «in der Erfüllung ihrer Aufgaben unabhängig», sie soll aber explizit «keine individuellen Klagen» annehmen und «keine Aufsichts- oder Ombudsfunktion» erfüllen.
Vorausgegangen sind Jahre, in denen sich unterschiedliche Akteure, viele davon bis zur Erschöpfung, für die Schaffung einer NMRI eingesetzt haben. Treibend dabei war zuerst der Verein Menschenrechte Schweiz (Mers). Dessen Geschäftsführerin Maya Doetzkies schrieb bereits 2001, die Zeit für eine NMRI sei reif, denn die Schweiz habe in den vorangegangenen zwanzig Jahren «die wichtigsten Menschenrechtsverträge ratifiziert und damit zugesagt, die eingegangenen Verpflichtungen im eigenen Land umzusetzen». Mit derselben Argumentation verlangten noch im selben Jahr hundert NGOs, Gewerkschaften, kirchliche Organisationen und Einzelpersonen die Errichtung einer NMRI, ebenso wie zwei parlamentarische Initiativen der Parlamentarier:innen Vreni Müller-Hemmi (SP) und Eugen David (CVP).
2003 erarbeitete das Aussendepartement eine Grundlagenstudie zur NMRI, in der in aller Deutlichkeit die schweizerische Doppelmoral in Sachen Menschenrechte angesprochen wurde. Man nehme diese einerseits «als rechtliches Konzept nicht ernst», sie würde «gar als irrelevantes Moralin belächelt». Es gebe andererseits eine «klare Überzeugung» im Land, «dass die Schweiz den internationalen Standards zweifellos und ohne weiteres genüge».
Es brauchte dann ganze fünf Jahre und die unermüdliche Arbeit eines neu gegründeten Fördervereins, damit der Bundesrat den fünfjährigen Versuchsbetrieb eines «universitären Dienstleistungszentrums» zum Thema Menschenrechte beschloss. Das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR) erhielt ein Budget von jährlich einer Million Franken und sollte in einer «Pilotphase» so etwas wie den Beweis erbringen, dass eine NMRI überhaupt funktionieren kann.
Das SKMR nahm seine Arbeit 2011 auf und erarbeitete unzählige Stellungnahmen und Studien, es beriet Unternehmen sowie kantonale und eidgenössische Verwaltungen in Menschenrechtsfragen, veranstaltete Tagungen und Kongresse, aber immer im eng gesetzten Rahmen. Die Pilotphase wurde dann nochmals verlängert, bis 2022.
In der Zwischenzeit kämpfte der zivilgesellschaftliche Zusammenschluss «NGO-Plattform Menschenrechte Schweiz» mit Stellungnahmen, Modellen, Positionspapieren und Interventionen hinter den Kulissen weiter für eine NMRI, die vollumfänglich den Pariser Prinzipien entsprechen sollte. Dass der Bundesrat Ende 2019 endlich eine entsprechende Gesetzesvorlage ins Parlament schickte, ist seinem Einsatz zu verdanken.
Heute aber sprechen jene, die während Jahren für diese Institution gekämpft haben, nur noch «off the record». Zu gross ist ihre Angst, dass das minimal Erreichte in letzter Minute doch noch gekippt werden könnte. Bis zuletzt gab es dem Vernehmen nach Interventionen vonseiten des Bundesrats, namentlich von Aussenminister Ignazio Cassis, um Entscheide der vorbereitenden Arbeitsgruppe zu beeinflussen – unter anderem, was die Zusammensetzung des künftigen Vorstands betraf.
Schon die lange Leidensgeschichte dieser Institution zeige, dass «niemand im offiziellen Bern diese Institution wirklich will, und viele Kantone wollen sie auch nicht», sagt eine Person, die mit dem ganzen Prozess bestens vertraut ist, aber anonym bleiben möchte. Genau aus diesem Grund sei die Federführung denn auch dem Aussendepartement übertragen worden – weil es «in Sachen Menschenrechte fürs Inland nun mal keine Kompetenzen» habe. Die NRMI habe zum zahnlosen Tiger gemacht werden sollen. Hierzulande fürchte man sich generell vor einer offenen Debatte über Menschenrechte, weil damit «der Mythos zerstört werden könnte, es stehe in der Schweiz alles zum Besten», sagt dieselbe Quelle; man habe also «ganz bewusst eine schwache Institution geschaffen, die nicht viel bewirken kann».
Mit beschränkten Mitteln
Tatsache ist, es fehlte mehr als nur am «klaren politischen Willen» zur Schaffung dieser Institution, wie er ironischerweise in der Grundlagenstudie des Aussendepartements gefordert wurde. Weder Micheline Calmy-Rey (SP) noch Didier Burkhalter und Ignazio Cassis (beide FDP) gaben der Vorlage Priorität. Und als die NMRI als Minimalvariante in die parlamentarische Debatte kam, wurden ihr von bürgerlicher Seite weitere Zähne gezogen.
So wird die schweizerische NMRI keine Überwachungsaufgaben haben, ihr Aufgabenkatalog ist bewusst abschliessend gehalten, was ihre Autonomie behindert – und ihr Budget ist für die nächsten vier Jahre auf eine Million Franken pro Jahr beschränkt. Hinzu kommen «Sachbeiträge» der Kantone in unbestimmter Höhe, wobei diese aber noch nicht gesprochen sind; die Konferenz der Kantone wird das Thema im Juni behandeln. Zum Vergleich: Das dänische Institute for Human Rights hat ein Jahresbudget von zwanzig Millionen Franken und rund hundert Mitarbeiter:innen.
Bereits vor der Gründung haben der Behindertenrechts- und der Sozialausschuss der Uno Bedenken dazu angemeldet, ob die Schweizer NMRI mit einer Million Franken pro Jahr über ausreichende Mittel und Kompetenzen verfügen werde. Und der internationale NMRI-Verbund European Network of National Human Rights Institutions warnte, die Schweiz solle ihrer Menschenrechtsinstitution «angemessene Ressourcen» zur Verfügung stellen – ansonsten, so deutete der Verbund an, könnte der neu geschaffenen NMRI die Akkreditierung als vollwertige Menschenrechtsinstitution verweigert werden. Falls es so weit kommt, hätten all jene, die partout keine starke NMRI wollten, noch einmal ein paar Jahre Zeit gewonnen.