Türkei nach der Wahl: Ein langer Winter bricht an
In der Türkei hat sich eine knappe Mehrheit für weitere fünf Jahre unter Präsident Erdoğan entschieden. Nicht nur für Oppositionspolitiker:innen ist das eine Katastrophe.
Vor genau zehn Jahren hat Lobna Allami ihr altes Leben verloren. «Ich war 34 Jahre alt, als mir die Polizei am 31. Mai 2013 mit Beschluss des Staates im Gezi-Park in den Kopf schoss, jetzt bin ich 44 Jahre alt», schrieb die türkische Philosophin am Samstag auf Twitter. Während der grossen Gezi-Proteste wurde Allami von einer Tränengasgranate derart schwer verletzt, dass sie dreimal am Gehirn operiert werden musste. Heute ist sie arbeitsunfähig und leidet an Epilepsie. Und noch immer gibt es kein Urteil in ihrem Fall. «Ich habe meine Gesundheit und meine Karriere verloren», schreibt Allami. «Ich werde wählen gehen und zuvorderst an der Wahlurne stehen, damit zukünftig junge Menschen nicht so ein Leben haben.»
Die Hoffnung Allamis wurde am Sonntag enttäuscht. Nach vorläufigen Ergebnissen erhielt Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu bei der Stichwahl nur rund 48 Prozent der Stimmen, Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan gelang die Wiederwahl. Immerhin hat es die Opposition geschafft, ihn ernsthaft in Bedrängnis zu bringen. Noch nie zuvor hatte es eine Stichwahl um das Präsidentenamt gegeben.
Umso mehr waren die vergangenen zwei Wochen geprägt von schmutzigen Tricks der Regierungspartei. Auf Wahlveranstaltungen zeigte Erdoğan etwa wiederholt ein gefälschtes Video, das Kılıçdaroğlu gemeinsam mit Murat Karayılan, dem Oberkommandierenden der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), zeigt. Damit soll eine Zusammenarbeit zwischen den beiden Männern bewiesen werden. Auch im Fernsehen war das Filmchen, gegen dessen Verbreitung Kılıçdaroğlu juristisch vorgeht, zu sehen. In ihrer Verzweiflung griff die Opposition auf üblen Rassismus zurück: Kılıçdaroğlu kündigte an, im Fall eines Wahlsiegs alle Geflüchteten im Land sofort abzuschieben.
Millionen Leidtragende
Die Opposition hatte versprochen, bei einem Wechsel den Frühling in die Türkei zu bringen – doch jetzt beginnt ein langer Winter. Nach rund zwanzig Jahren an der Macht wird Erdoğan auch die nächsten fünf Jahre regieren. Die Staatskassen sind leer, Erdoğans unorthodoxe Finanzpolitik hat zu Misstrauen bei ausländischen Anleger:innen geführt. Der Staatsapparat ist mit seinen Günstlingen durchsetzt, die keine Hoffnung auf liberale Entwicklungen zulassen. Stattdessen ist zu erwarten, dass Erdoğan seine Macht weiter zementieren und den autoritären Kurs noch verschärfen wird.
Denn die Wahl war ein Sieg, aber kein Triumph. «Heute hat niemand verloren», behauptete Erdoğan mit einem Lächeln, die Demokratie habe gesiegt. Millionen aber sind Leidtragende seines Sieges – darunter etwa die vielen Oppositionellen, die nun weiterhin in den Gefängnissen ausharren müssen. Schon bei seiner Siegesrede hat Erdoğan angekündigt, dass er Selahattin Demirtaş niemals freilassen werde. Der frühere Chef der prokurdischen Partei HDP sitzt seit 2016 hinter Gittern. Und dann sind da noch die vielen jungen Menschen, die einen Machtwechsel herbeigesehnt hatten. Eine im April 2022 von der deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung veröffentlichte Studie kam zum Ergebnis, dass sich ein Grossteil der jungen Türk:innen eine Zukunft im Ausland wünschen, weil es ihnen vor allem an Jobperspektiven fehlt.
Unterstützung wird Erdoğan aus dem neu gewählten Parlament bekommen, in dem das von ihm geschmiedete «Nationalbündnis» die stärkste Fraktion bildet. Diese Allianz, der etwa die faschistischen Grauen Wölfe und die ultraislamistische Hüda-Par angehören, ist eine Zusammenkunft des Grauens. Der Wiedereinstieg der Türkei in die Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen ist damit vom Tisch; queere Menschen drohen noch schlimmere Diskriminierung zu erfahren; Minderheitenrechte, etwa jene der Kurd:innen, oder auch die immer noch in der Verfassung verankerte Säkularität dürften weiter beschnitten werden.
Spiel mit dem Nationalismus
Dass es so weit gekommen ist, hat auch mit dem Versagen der EU zu tun. Diese hat viel zum Rechtsruck der letzten Jahre beigetragen, indem sie die türkische Gesellschaft alleingelassen hat. Nur ein aktuelles Beispiel: Rund 4 Millionen Geflüchtete leben heute in der Türkei, etwa 3,6 Millionen von ihnen sind vor dem Krieg im Nachbarland Syrien geflohen. 2016 hat die EU einen «Flüchtlingsdeal» mit der Türkei vereinbart, der im Kern besagt: Ihr behaltet die Geflüchteten, wir schicken euch dafür Geld. Was Erdoğan eine unvergleichliche Machtposition gegenüber der EU verschafft hat, empfinden nicht wenige Türk:innen als Teufelspakt: Je mehr sie unter der Wirtschaftskrise ächzen, desto schlimmer wurden ihre Ressentiments. So auch nach dem verheerenden Erdbeben im Februar: Da wurde den Syrer:innen rasch vorgeworfen, den Türk:innen ihre Hilfsgelder wegzunehmen.
Das Spiel mit dem türkischen Nationalismus hat sich als erfolgreich erwiesen – und es wird auch nach der Wahl weitergehen. Im Oktober feiert die türkische Republik den 100. Jahrestag ihrer Gründung, und mit seiner Wiederwahl sei nun «das Tor zum Jahrhundert der Türkei aufgestossen» worden, sagte Erdoğan bei einer Ansprache in Istanbul. Zugleich dürfte aber auch die Unterdrückung jeglicher Kritik weitergetrieben werden. So wie letzte Woche, als sich ein dreizehnjähriger Junge vor einem Gericht erklären musste, weil er den Präsidenten beleidigt haben soll.
Internationale Reaktionen: Glückwünsche für Erdoğan
Auf die Wiederwahl des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan wurde international mit vielen Glückwünschen reagiert. Als einer der ersten Staatschefs gratulierte noch am Sonntagabend der russische Präsident Wladimir Putin – trotz seines Angriffskriegs gegen die Ukraine unterhalten die beiden Politiker gute Beziehungen.
Obwohl Erdoğan mit scharfen antiwestlichen Parolen den Wahlkampf bestritten hatte, twitterte US-Präsident Joe Biden, er freue sich, weiterhin mit seinem türkischen Amtskollegen zusammenzuarbeiten, «als Verbündete in der Nato bei bilateralen Fragen und globalen Herausforderungen». Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz erklärte, Berlin und Ankara seien «enge Partner und Alliierte» – «nun wollen wir unsere gemeinsamen Themen mit frischem Elan vorantreiben». Auch der französische Präsident Emmanuel Macron gratulierte Erdoğan mit dem Hinweis, beide Länder hätten «immense Herausforderungen gemeinsam zu bewältigen», darunter die «Rückkehr des Friedens in Europa, die Zukunft unseres euroatlantischen Bündnisses» sowie die Zukunft des Mittelmeerraums.
Besonders auffällig ist: Keine:r der Gratulant:innen übte Kritik an Erdoğans autoritärem Kurs oder forderte die Einhaltung der Menschenrechte. Dies zeigt, wie wichtig die Türkei ist, auch wegen ihrer besonderen geografischen Lage; insbesondere europäische Politiker:innen fürchten, Erdoğan könnte den EU-Türkei-Deal platzen lassen – und nicht weiter als Türsteher der Festung Europa fungieren.