Ilja Kabakow (1933–2023): Eine Welt im Schrank

Nr. 23 –

Den Fluchtweg stets im Hinterkopf: Eine Überlebenstechnik in der Sowjetunion wurde bei Ilja Kabakow zum künstlerischen Konzept. Nun ist der grosse Künstler des Verschwindens in New York gestorben.

Foto von Ilja Kabakow
Ilja Kabakow

«Seit ich mich erinnern kann, und auch schon vorher (meine Mutter hat es von mir als Dreijährigem erzählt), weiss ich von dem Wunsch, wegzulaufen, von dort abzuhauen, wo man gerade ist.» Das schrieb Ilja Kabakow 1986, als er eine seiner berühmtesten Installationen kommentierte: «Der Mensch, der von seinem Zimmer aus in den Kosmos flog».

Er dachte dabei an ganz alltägliche Erfahrungen, an Besuche, bei denen man schon vorher glücklich darüber ist, wieder gehen zu können, oder an Gespräche, die das «unüberwindliche Bedürfnis» erzeugen, aufzustehen und zu verschwinden. Oft reiche es schon, diesen Ausweg einfach zu denken oder überhaupt die Möglichkeit zur Flucht im Hinterkopf zu haben, ohne sie realisieren zu müssen.

Für Ilja Kabakow war diese Überlegung, die wohl niemandem fremd ist, mehr als nur eine Alltagserfahrung, sie wurde zu seiner Überlebenstechnik als Künstler in der Sowjetunion. Geboren 1933 in Dnepropetrowsk, heute Dnipro, lebte er bis 1987 in Moskau. Unzählige Male musste er dort nach Ausflüchten und Auswegen suchen, um nach eigenen Vorstellungen künstlerisch aktiv sein zu können: Kinderbücher illustrieren, um Geld zu verdienen, Ausreden überlegen, um sein Atelier zu behalten, Ideologie umnutzen, um die eigenen Arbeiten zu tarnen, die Wohnung als Ausstellungsort nutzen, Bücher selber herstellen, Kommentator:innen des eigenen Werkes erfinden und zu Figuren der Kunst machen.

Auch als sich in den siebziger Jahren Inspektor:innen der staatlichen Kulturverwaltung zu einem Atelierbesuch bei ihm anmeldeten, hatte er eine Ausflucht parat. Er pries ihnen seine Bilder als sozialistische Auftragskunst an: «Das alles sind Aufträge von der Wohnungsverwaltung. Dies ist der Plan für die Entleerung des Mülleimers in den verschiedenen Treppenaufgängen unseres Hauses. Dies ist eine Schautafel für den Spielplatz im Hof, […] an den Wänden hängen leere Tafeln für Mitteilungen, die noch geschrieben werden müssen.»

Im sowjetischen Untergrund

Kabakow interpretierte seine Arbeiten kurzerhand um, damit sie nicht konfisziert wurden und er sein Atelier behalten konnte. Der Plan für die Entleerung des Mülleimers imitierte eigentlich die Pedanterie sowjetischer Wohnungsverwaltungen, und die weissen Bilder sollten auch später weiss bleiben: Er verwendete sie Jahre danach für eine Installation über einen erfundenen Auftragskünstler, der aus einer Kommunalka verschwunden war und geheimnisvolle, fast weisse Bilder hinterlassen hatte. Einige der fast weissen Bilder verschwanden ihrerseits heimlich ins Ausland, 1995 in die Kunsthalle Bern, zur ersten Ausstellung von Kabakow im Westen.

Kabakows Uminterpretation und Umnutzung der Bilder war nicht nur existenzielle Tarnung, sondern sein künstlerisches Verfahren, das den gesamten sowjetischen Underground prägte. Wenn Kabakow verschwand, dann, um als Figur seines Werkes wiederaufzutauchen, als «metaphysischer Mensch», wie in der eben beschriebenen Installation, oder als «Mensch, der nie etwas wegwarf», oder als «unbegabter Künstler». In einem seiner Künstleralben erscheint er als Sammler der Wohnraumverwaltung, der Lai:innenkunst aus dem Wohnblock ausstellt. Was er als fiktive Ausstellung zeigt, sind allerdings keine Zeichnungen auf Wandzeitungen und Sprüche aus Poesiealben, sondern die künstlerischen Arbeiten des damals inoffiziellen Moskauer Konzeptualismus. Kabakow macht die sozialistische Lai:innenkunst in seinen Alben zur Geburtshelferin für verbotene Kunst.

Auch als Kabakow dann tatsächlich 1987 aus der Sowjetunion floh, indem er nach einem Stipendium in Graz nicht mehr nach Moskau zurückkehrte, blieb das Thema des Verschwindens präsent. Und zwar zunächst in umgekehrter Form, denn Kabakow konzipierte die «Totale Installation» – ein neues Kunstgenre, einen abgeschlossenen Raum mit einem «vollständig in sich geschlossenen Modell der Welt». Diese Räume baute er oft in Museen oder Kunsträume hinein, um für die Besucher:innen den Effekt einer «doppelten Wirkung» zu erzeugen.

Er wollte erreichen, dass man in eine fremde Welt ganz und gar eintauchen kann, als würde man in jemandes Schrank sitzen. Aber gleichzeitig kann man diese andere Welt aus eigenen Stücken wieder verlassen und die Situation des Eingeschlossenseins reflektieren. Was bedeutet es, die Situation, in der man ist, nicht von aussen betrachten zu können? Was bedeutet es, eine andere Perspektive nicht einnehmen zu können, sondern immer erfinden zu müssen?

Der fiktive Psychiater

Meine erste «Totale Installation» betrat ich 1997 in Berlin, sie führte direkt in Kabakows Biografie: ein Provinzkrankenhaus, in dem der fiktive Psychiater Lubin Chefarzt ist und eine seltsame Behandlung zur Heilung durch Erinnerung durchführt. Ein langer Flur mit sechs Türen, hinter denen sich jeweils Behandlungsräume befinden. In jedem Zimmer werden Dias an die Wand geworfen, Stimmen erzählen Geschichten zu den Fotos, aber die Betten sind leer, die Patient:innen verschwunden. Erst allmählich begreift man die Anwesenheit von Kabakow, es ist seine eigene Geschichte und die seiner Frau Emilia, die hier erzählt wird. Beide sind in Dnepropetrowsk geboren, im gleichen Zimmer sogar, sie gingen gemeinsam zur Schule, verloren sich aus den Augen und trafen sich 1988 in New York wieder. Dort heirateten sie vier Jahre später und sind seither gemeinsam Autor:innen der künstlerischen Arbeiten.

Gemeinsam haben sie 2001 etwa den «Palast der Projekte» aufgebaut, eine der bekanntesten Dauerinstallationen im Salzlager der Kokerei Zollverein in Essen. Auch dieser Palast erzählt vom Verschwinden, die Kabakows holen vermeintlich Vergessenes aus dem Archiv: Projekte, die nie realisiert worden sind – wobei es die meisten davon nie gegeben hat, auch sie sind Erfindungen der Kabakows.

Das Poetischste dieser Projekte, ein Projekt zur Erzeugung von Projekten, wurde vom fiktiven Psychiater Eduard Stachowski aus Dnepropetrowsk ausgedacht und führt uns an den Anfang zurück: «Nichts verhilft so zur Entstehung und Produktion neuer Ideen und folglich radikal neuer Projekte wie der ständige Hinweis auf einen möglichen Ausweg in einen anderen Raum oder in eine andere Dimension.» Psychiater Stachowski hatte die Idee, sich eine Tür an die Decke zu hängen, um jederzeit, zumindest gedanklich, verschwinden zu können. Kabakow hat mit solchen kleinen Ideen immer wieder Momente der Öffnung und der Unvorhersehbarkeit in scheinbar geschlossene Räume eingeschleust. Dabei reichte ihm oft schon die blosse Andeutung eines Auswegs.

Verschwinden als Trost

Ilja Kabakow, einer der bedeutendsten internationalen Gegenwartskünstler, ist am 27. Mai in New York gestorben. Es dauerte nicht lange, und viele seiner Freund:innen stellten Bilder seiner Arbeiten ins Netz, posteten gemeinsame Fotos, teilten Erinnerungen, erzählten Anekdoten, viele berichteten, wie sehr seine Arbeiten ihre eigenen auf den Weg gebracht hätten. Mehrere Tage lang zogen diese Bilder und Geschichten durchs Netz. Besonders oft war «Der Mensch, der von seinem Zimmer aus in den Kosmos flog» zu sehen.

Manchmal schien es, als sorgten seine Arbeiten vom Verschwinden für den nötigen Trost. «Aus dem Leben weglaufen? Nein, das kam mir niemals in den Sinn», sagte er einmal. «Der echte ‹Abgang› geschieht ja wohl von allein, zu seiner Zeit, und hängt nicht von unserem Wunsch ab.»

Sylvia Sasse ist Slawistikprofessorin an der Uni Zürich. Zuletzt ist von ihr das Buch «Verkehrungen ins Gegenteil. Über Subversion als Machttechnik» (Matthes & Seitz, 2023) erschienen.