Widerstand in Polen: Ängstliche Hunde beissen am stärksten

Nr. 23 –

Hunderttausende sind am Wochenende gegen ein Gesetz der rechtsnationalen PiS-Regierung auf die Strasse gegangen. Die polnische Opposition wittert für die Wahl im Herbst Morgenluft.

Es war ein Meer aus weiss-roten Landesfahnen, bestirnt-blauen EU-Flaggen und Sprüchen gegen die rechtsnationale Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS). «Do not PiSs on Poland» stand auf einem der Plakate, «Nette Frau sucht: neue Regierung» auf einem anderen. Aber auch: «Kaczyński, du kommst in den Knast.» Ein solches Ausmass hatten sich wohl selbst die Organisator:innen der Demonstration vom vergangenen Sonntag kaum erhofft: Laut offiziellen Angaben zogen etwa 300 000 Menschen durch Warschau – die Veranstalter:innen sprachen gar von einer halben Million. Auch in anderen Städten gab es teils grosse Proteste.

Der «Warschauer Marsch» hat grosse Symbolkraft: Er fand am 4. Juni statt, dem 34. Jahrestag der ersten «halbfreien» Wahl in Polen im Jahr 1989, die viele im Land als Sieg über den autoritären Kommunismus sehen. Zur Demonstration aufgerufen hatte die grösste Oppositionspartei, die Bürgerplattform (PO) von Expremierminister Donald Tusk. Aus ihrer Sicht war diese denn auch ein voller Erfolg. Er wolle den PiS-Autoritarismus beenden, sagte der ehemalige EU-Ratspräsident Tusk in seiner Rede. «Ich verspreche euch den Wahlsieg, die Abrechnung mit dem Bösen, Genugtuung für menschliches Unrecht und die Vereinigung aller Polen.»

Inspiriert von totalitären Staaten

Ursprünglich war eine Demo «gegen Teuerung, Diebstahl und Lügen» geplant gewesen. Doch ein umstrittenes Gesetz der PiS und dessen schnelle Unterzeichnung durch Präsident Andrzej Duda veränderten die Dynamik – was wenig überraschend ist: Die Ende Mai von der PiS-Mehrheit verabschiedete Vorlage «über die staatliche Kommission zur Untersuchung russischer Einflüsse auf die innere Sicherheit der Republik Polen von 2007 bis 2022» hat es nämlich in sich.

Laut dem längst «Lex Tusk» getauften Gesetz soll eine von der PiS bestimmte Kommission diffus formulierte «russische Einflüsse» aufspüren und vor allem ahnden: Sie kann mit sofortiger Wirkung «Abhilfemassnahmen» beschliessen – ein euphemistischer Ausdruck für Strafen. Dazu gehören Amtsverbote und das Verbot der Kandidatur bei Parlamentswahlen jeweils für bis zu zehn Jahre.

Die stets neutral formulierenden Jurist:innen des Legislativbüros des Sejm, der grösseren Kammer des Parlaments, betrachten die Kommission als «Gebilde, das Funktionen der Geheimdienste, der Staatsanwaltschaft und des Gerichts vereint, ein in einer Demokratie völlig unbekannter Körper und ausserhalb des polnischen Verfassungsrahmens». Siebzehn ehemalige Richter des polnischen Verfassungsgerichts sehen den Schritt als «von der Gesetzlosigkeit totalitärer Staaten inspiriert». Und EU-Justizkommissar Didier Reynders sagte letzte Woche bei einer dringlich anberaumten Debatte im Parlament, er habe «ernsthafte Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit mit dem EU-Recht».

Sich nicht unterkriegen lassen

Zwei Tage vor den Protesten hatte Präsident Duda überraschend eine Novelle des Gesetzes vorgestellt, das er kurz zuvor unterschrieben hatte: Sie soll etwa die Strafmassnahmen entschärfen. Doch zum einen sprechen Kritiker:innen von «kosmetischen Korrekturen»; zum anderen ist bislang nicht klar, ob die PiS auf die Vorschläge eingehen wird. Das Gesetz, das die Regierung will, hat sie bekommen – und sie hat auch die Umfragen für die Wahl im Herbst vor Augen: Von einer Alleinregierung wie jetzt ist die PiS mit etwa 34 Prozent Zustimmung weit entfernt.

Eine theoretisch mögliche Koalition mit der erstarkenden nationalistisch-libertären Konfederacja aber, die in Umfragen bei 11 bis 13 Prozent liegt, dürfte Chaos bedeuten, weil sich die Positionen der beiden Parteien in der Wirtschafts- und der Ukrainepolitik stark unterscheiden. Die neuste Untersuchung von dieser Woche sieht die PO hingegen sogar vor der PiS (31–32 Prozent), gemeinsam mit den den anderen beiden Parteien des Oppositionsblocks, dem katholischen Bündnis Dritter Weg (10 Prozent) und der Linken (6 Prozent).

Ein Blick auf die Rhetorik und Politik der PiS der letzten Jahre zeigt, dass sie bereit ist, sehr weit zu gehen, um die Macht zu behalten. Viele Beobachter:innen befürchten denn auch, dass das Votum im Herbst weder frei noch demokratisch sein könnte. «Die Regierenden werden immer ängstlicher, und Angst ist ein schlechter Ratgeber, besonders für Diebe und Betrüger», schreibt dazu der Publizist Jerzy Surdykowski in der konservativen Tageszeitung «Rzeczpospolita». «Ein ängstlicher Hund, der in eine Ecke getrieben wird, beisst am stärksten zu.»

Bereits Ende 2022 hatte PiS-Chef Jarosław Kaczyński gesagt, der politische Kampf in Polen sei so heftig, weil «zweifellos auch externe Kräfte» eingreifen würden: Personen, «die bestimmte Länder ausserhalb, insbesondere Deutschland, mehr schätzen als Polen». Kaczyński schloss: «Wir werden einen starken Staat haben. Und wir werden diese Leute vernichten.» Wer «diese Leute» sind? Laut PiS-Sprecher Rafał Bochenek die Unterstützer:innen von Donald Tusk und seiner PO.

Dass Medienprofi Tusk sich so schnell nicht unterkriegen lässt, zeigte er indes am frühen Montagmorgen. So besuchte er Beschäftigte der Stadtreinigung auf den Strassen Warschaus, die nach dem Marsch vom Vortag den grossen Kehraus machten. Er schätze ihre Arbeit und sei dankbar, twitterte Tusk anschliessend samt Foto – und liberale Medien verbreiteten das flugs. Die Opposition hat Morgenluft gewittert. Diesmal hat sie allen Anlass dazu.