Polen vor der Wende
Die Wahlen vom 15. Oktober haben das Ende der rechten PiS-Regierung besiegelt. Doch deren Ablösung wird vom Präsidenten verzögert. Der noch bis 2025 amtierende Duda wird es der neuen Koalition unter Donald Tusk auch weiterhin schwer machen, ihr bereits beschlossenes Programm umzusetzen.
Endlich mal eine gute Nachricht in Zeiten, in denen eine Schreckensmeldung die nächste jagt. In Polen hat die nationalkonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) nach acht Jahren an der Regierung – und zahlreichen umstrittenen und polarisierenden Aktionen – eine überraschend deutliche Niederlage erlitten. Zwar blieb die PiS mit 35,4 Prozent der Wählerstimmen erneut stärkste Partei, aber das reichte im neuen Sejm nur für 194 von 460 Mandaten.
Das oppositionelle Bündnis aus Bürgerkoalition (Koalicja Obywatelska, KO), Dritter Weg (Trzecia Droga, TD) und Neuer Linker (Nowa Lewica, NL) kam auf insgesamt 248 Sitze: 157 für die KO (30,7 Prozent der Wählerstimmen), 65 für den TD (14,4 Prozent) und 26 für die NL (8,6 Prozent). Auch im Senat, dem als Oberhaus eine wichtige legislative Kontrollfunktion zukommt, hat die Opposition mit 61 von 100 Sitzen eine komfortable Mehrheit. Ihr Erfolg ist umso beeindruckender, als die PiS-Regierung den Wahlvorgang mit diversen juristischen Tricks und administrativen Schikanen auf unfaire Weise beeinflusst hat.
Die Wahlen in Polen waren zwar noch frei, aber – zumindest seit 2019 – nicht mehr gleich. Zum Beispiel wurde die Parteienkonkurrenz durch die „öffentlichen“ Medien verzerrt, die systematisch Regierungspropaganda betrieben. Zudem gibt es Hinweise darauf, dass ein Wahlkampfleiter der Opposition vom Geheimdienst bespitzelt wurde. Daher schickte die OSZE eine Beobachtermission und der Europarat eine Delegation ins Land, die den Wahlvorgang überwachen sollten.
Um das Wahlresultat vom 15. Oktober und die Aussichten der absehbaren neuen Mitte-links-Koalition realistisch einzuschätzen, muss man zunächst die Ausgangslage vor dem diesjährigen Wahlgeschehen in den Blick nehmen. Dabei gilt es vor allem, das „System Kaczyński“ zu begreifen, das die polnische Politik und Gesellschaft seit Herbst 2015 entscheidend geprägt und dem Land im übrigen Europa den Ruf eines unberechenbaren Störenfrieds eingebracht hat.
Das System Kaczyński ist am Ende
Über Jahre hat die nationalkonservative PiS ihre Politik mit der Souveränität eines Geisterfahrers betrieben. Das ist nicht ironisch gemeint, denn der Wahnsinn hatte Methode. Der polnische Nationalismus des 21. Jahrhunderts ist weder eine historische Verirrung noch – im Sinne des bekannten Marx’schen Diktums – eine populistische Farce. Er ist die Fortsetzung der polnischen Tragödie des 19. und 20. Jahrhunderts: Das manchmal verzweifelt anmutende Bemühen eines Landes, das immer wieder historische Entwicklungsrückstände aufholen muss – infolge ungeheurer Verwüstungen und der Abhängigkeit oder Unterdrückung durch ausländische Mächte.
Die PiS steht in einer Traditionslinie mit den nationalistischen Kräften der Zwischenkriegszeit, aber auch mit den polnischen Nationalkommunisten und vor allem mit der Gewerkschaftsbewegung Solidarność. Die Basis dieser Bewegung hatte ursprünglich eine nationalkatholische Revolution im Sinn, die auch die Rechte der arbeitenden Massen stärken sollte. Die liberale Demokratie nach westlichem Vorbild war insofern nur ein Mittel zum Zweck. Deswegen hatte die PiS auch kein Problem damit, die Demokratie massiv zu verzerren, weil sie ihres Erachtens nach den gewünschten Zweck verfehlte.
Man wird Jarosław Kaczyński nicht gerecht, wenn man ihn als postmodernen Populisten vom Schlage des mafiösen Viktor Orbán oder des Scharlatans Donald Trump bezeichnet. Kaczyński ist vielmehr – wie der imperiale Wladimir Putin – ein versierter und mit analytischem Scharfsinn ausgestatteter Stratege, dessen Ideologie allerdings einer offenbar vergangenen Epoche entstammt – er hat seine „altrechte“ Partei in neue Kleider gehüllt. Der PiS-Chef hat schon vor Jahren verstanden, was zwei linke Intellektuelle kürzlich überzeugend dargelegt haben.
Die Soziologen Przemysław Sadura und Sławomir Sierakowski beschreiben den Populismus als ein „antipolitisches“ Politikmodell, das in der ganzen
westlichen Welt funktioniert.1 Nicht nur Extremisten setzen auf den Populismus, sondern auch Politiker verschiedener Couleur wie Boris Johnson, Emmanuel Macron oder Beppe Grillo.
Die beiden Soziologen verweisen darauf, dass in allen Gesellschaften, in denen die neoliberale Ideologie und der Finanzsektor dominieren, grundlegende Entscheidungen außerhalb des demokratischen Entscheidungsprozesses fallen. Deshalb entwickle die in den „sozialen“ Medien parzellierte Wählerschaft ein zynisches Verhältnis zum Politikbetrieb, wo sie zwar eine dem Volk entfremdete „Elite“ am Werk sieht, der sie aber Machtmissbrauch und Affären verzeiht, solange ihre egoistischen Forderungen erfüllt werden.
Für die Parteien bedeutet das: Wer nicht populistisch agiert, verliert. Das zwingt sie zu einem „pragmatischen Populismus“, der sowohl partikulare Interessen als auch das Bedürfnis nach dem „gemeinsamen Feind“ – im Ausland oder im Inneren – bedient. Wie der polnische Wahlkampf von 2023 gezeigt hat, müssen die Politiker allerdings vermeiden, dass sich die beiden Erzählstränge konterkarieren.
Dabei war Kaczyńskis Politik keineswegs antielitär. Er betrieb vielmehr einen gezielten Elitenaustausch in Justiz, Medien, Wissenschaft und Kultur. Ziel dieses Eifers war die Wiederherstellung einer normativen Hegemonie, die ultrakatholisch inspiriert und nationalistisch eingefärbt war, vergleichbar etwa mit Spanien oder Irland in der Mitte des 20. Jahrhunderts. So hält der gläubige Katholik Kaczyński die LGBTIQ-Community tatsächlich für eine Ansammlung von „Perverslingen“. Und in der Debatte um die Verschärfung des ohnehin äußerst restriktiven Abtreibungsgesetzes argumentierte er allen Ernstes: Auch Kinder, die keine Überlebenschance haben und das Leben der Mutter gefährden, müssen zur Welt kommen, denn nur die Taufe ebnet ihnen den Weg in den Himmel.
Auf antisemitische und antiukrainische Ausfälle konnte die PiS allerdings verzichten, indem sie selbst rechtsradikale Organisationen förderte. Umso heftiger wetterten die Nationalkonservativen gegen die angeblich deutschfreundliche „Fünfte Kolonne“ im Inneren und die „Fremdherrschaft“ durch Brüssel. Das öffentliche Bildungssystem wurde einer rigiden politischen Kontrolle unterworfen und die Kulturpolitik für eine revisionistische Geschichtspolitik instrumentalisiert.
Die verfassungswidrigen und antidemokratischen Projekte der PiS hatten von Anfang an die Funktion, die rapiden gesellschaftlichen Umwälzungen voranzutreiben und zu flankieren. Diese langfristige, in keinem Wahlprogramm ausformulierte Strategie ließ sich die Partei durch ihre Wahlsiege legitimieren. Die verdankte sie vor allem ihrer Sozialpolitik (Verdoppelung des Mindestlohns, Kindergeld, massive Rentenerhöhungen) und Steuererleichterungen für die Mittelschicht.
Aber auch Großprojekte trugen dazu bei, wie etwa das LNG-Terminal in Swinemünde, ein neuer Zentralflughafen als europäischer Hub oder das erste polnische Atomkraftwerk. Mit 43,6 Prozent (8 Millionen Stimmen) konnte die PiS 2019 ihre Wählerbasis bei den Parlamentswahlen gegenüber ihrem Sieg von 2015 (37,6 Prozent: 5,7 Millionen Stimmen) sogar noch erheblich ausweiten. Damit deklassierte sie die getrennt angetretenen Oppositionsparteien.
Dagegen ging die PiS im Herbst 2023 bereits angezählt in den Wahlkampf. Ihr wurden die sozialen und wirtschaftlichen Verwerfungen der Coronapandemie angelastet, die insbesondere kleinere Unternehmen schwer getroffen hatten. Das Gleiche galt für die durch den Ukrainekrieg enorm verschärfte Inflation (von zeitweise nahezu 20 Prozent). Obwohl die PiS-Regierung weitreichende Entlastungsprogramme beschloss (Steuererleichterungen, Aussetzung von vier monatlichen Kreditzahlungen pro Jahr, Energiesubventionen), konnte sie damit keine Pluspunkte machen. Die ersten Anzeichen für einen möglichen Regierungswechsel wurden 2022 sichtbar, als die PiS in einigen Woiwodschaften die Kontrolle über die Regionalregierungen verlor. Die Opposition konnte erstmals Hoffnung schöpfen.
Im Rückblick betrachtet, hat die PiS auch bei den Politikfeldern „Sicherheit“ und „Verhältnis zur EU“, auf denen sie in der Tat rein populistisch operierte, mehr verloren als gewonnen. Ihre ständigen Attacken gegen die EU-Kommission im Namen der polnischen „Souveränität“ waren angesichts drohender Wohlstandsverluste ein riskantes Manöver.
Die EU-Kommission fand ein wirksames Gegenrezept, indem sie die Rechtsstaatsfrage mit der Auszahlung von Mitteln aus dem Wiederaufbaufonds verknüpfte, auf die Warschau dringend angewiesen war. Denn die Umverteilungseffekte der PiS-Politik waren trotz enormer Ausgaben verpufft, weil die Regierung nicht in wohlfahrtsstaatliche Infrastrukturen investiert hatte. Die Armutsindikatoren haben sich – nach anfänglichen statistischen „Erfolgen“ – kaum verändert. Und beim verfügbaren Einkommen hat sich die Schere zwischen Stadt und Land sogar noch weiter geöffnet.
Da die Geburtenrate trotz der nationalkonservativen Familienpolitik nicht anstieg, ist aus Sicht der Wirtschaft die Immigration von Arbeitskräften alternativlos – und mittlerweile auf den Straßen der Großstädte auch deutlich wahrnehmbar. Doch das Staatsfernsehen verbreitete zwei Jahre lang demagogische Bilder von der Grenze zu Belarus und den brutalen Aktionen gegen Flüchtende. Die Legende von der „Bedrohung durch Fremdlinge“ brach wie ein Kartenhaus zusammen, als in der heißen Phase des Wahlkampfs bekannt wurde, dass ein korrupter Zirkel im Außenministerium offenbar polnische Visa verscherbelt hatte.
Hinzu kamen weitere Fehler in der „Ostpolitik“. Zunächst kam im Frühjahr heraus, dass das Verteidigungsministerium über Monate nicht nach einer russischen Rakete hatte suchen lassen, die in Polen eingeschlagen war. Zur gleichen Zeit musste sich die Regierung mit einem noch viel gravierenderen Problem herumschlagen: Sie hatte nicht verhindert, dass ukrainisches Getreide, das für den globalen Export bestimmt war, den polnischen Binnenmarkt überschwemmte, womit sie die bäuerliche Bevölkerung gegen sich aufbrachte.2
Brückenbauer Donald Tusk
In dieser kritischen Situation verschärften sich die seit Jahren schwelenden Rivalitäten und Verteilungskämpfe innerhalb der Regierung, zumal Kaczyński für 2025 seinen Rückzug aus der Politik angekündigt hatte. Bei alledem demonstrierte Kaczyńskis Truppe eine „Arroganz der Macht“, mit der sie am Ende sogar ihren einzigen denkbaren Koalitionspartner, die ultrarechte Partei Konfederacja Wolność i Niepodległość (Konföderation Freiheit und Unabhängigkeit, KWiN), verprellte. Als sich ein knappes Wahlergebnis abzeichnete, sprach man in PiS-Kreisen ganz ungeniert vom „Kauf“ der fehlenden Abgeordneten.
Letztendlich hat sich Kaczyński mit seinem Sendungsbewusstsein – „Wir gegen alle“ – wohl selbst zu Fall gebracht. Sein Versuch, die polnische Gesellschaft mit ideologisch aufgeladenen Parolen und Programmen nach rechts zu ziehen, hat diese nur umso stärker in die liberale Mitte gedrängt. Vor allem zwei Gruppen dürften zu Kaczyńskis Niedergang besonders beigetragen haben: Das sind zum einen die Frauen, von denen viele die PiS wegen ihrer großzügigen Sozialpolitik (etwa beim Kindergeld) früher unterstützt hatten, und zum anderen die Jugendlichen, die das „System Kaczyński“ in der Schule kennengelernt haben. Die Wahlbeteiligung in der Alterskohorte der 18- bis 29-Jährigen ist im Vergleich zu 2019 um über 20 Prozentpunkte gestiegen.3
Der PiS-Vorsitzende machte einen weiteren und womöglich entscheidenden Fehler: Im Wahlkampf ist er in eine Falle gelaufen, die er sich mit seiner Fixierung auf seinen alten Rivalen Donald Tusk selbst gestellt hat. Jarosław Kaczyński hegt auf den Chef der Bürgerkoalition einen geradezu obsessiven Hass, der mit dem tödlichen Flugzeugabsturz seines Zwillingsbruders, des damaligen Staatspräsidenten Lech Kaczyński, im April 2010 zu tun hat.4
Ganz offensichtlich trübte diese Besessenheit den politischen Instinkt des PiS-Chefs, der sich durch das „Feindbild Tusk“ einen Mobilisierungswahlkampf nach populistischem Muster aufzwingen ließ, statt wie ursprünglich geplant auf eine inhaltliche Auseinandersetzung zu setzen. Wie Umfragen zeigen, befürwortet eine große Mehrheit der Bevölkerung nach wie vor die wirtschafts- und sozialpolitischen Großprojekte der PiS. So gesehen kommt die Ablösung der PiS und Kaczyńskis gewissermaßen „historisch verfrüht“.
Tusk hat es geschafft, Brücken über die alten Gräben zu bauen, die programmatisch und weltanschaulich zwischen Liberalen, gemäßigt Konservativen und Linken existieren. Dazu hat er nicht nur eine gesellschaftspolitische Modernisierung ausgerufen, sondern auch auf klassisch populistische Rezepte zurückgegriffen: Statt eines traditionellen Wahlprogramms propagierte er eine Liste mit „100 konkreten Vorhaben für 100 Tage“ – ein buntes Sammelsurium, das nicht nur um 30 Prozent höhere Gehälter für die Lehrkräfte versprach, sondern auch die Abschaffung von Hausaufgaben und schweren Schulranzen.
Im Wahlkampf scheute Tusk auch nicht davor zurück, ausländerfeindliche Töne anzuschlagen, etwa aus Anlass der Visaaffäre. Vor allem aber versicherte er den Bürgerinnen und Bürgern, dass man ihnen nichts von dem, was sie von der PiS an sozialpolitischen Leistungen erhalten haben, wieder wegnehmen werde.
Überdies konnte die Opposition mit dem Argument mobilisieren, der 15. Oktober biete womöglich die letzte Chance auf „freie Wahlen“. Das konnte sie dank der tatkräftigen Hilfe der PiS-Regierung, die sich zu viele und zu durchschaubare Tricks geleistet hatte: So hatte sie die Kommunal- und Regionalwahlen auf 2024 verschoben und die Teilnahme an den Parlamentswahlen im Ausland erschwert. Sie gründete eine Kommission zur Aufklärung russischer Einflüsse, die offenkundig Tusk diskreditieren sollte. Dasselbe gilt für die suggestiven Fragen eines Referendums, etwa zu ausländischen Investoren und zur Asylpolitik, das für den Wahltag angesetzt wurde.
Und schließlich inszenierte die Regierung zwei plumpe Manipulationen: Rechtzeitig zum Wahltermin verkündete die Polnische Nationalbank die Senkung des Leitzinses, und der staatliche Ölkonzern Orlen senkte den Benzinpreis. Unklar ist dagegen, wer in Umlauf brachte, dass Kaczyński am Tag nach den Wahlen den Kriegszustand ausrufen werde – so wie General Wojciech Jaruzelski im Jahr 1981.
Mit ihren Tricks trug die PiS einiges zu der Wahlbeteiligung bei, die mit 74,3 Prozent eine Rekordhöhe erreicht. Dieser enorme Zuwachs gegenüber 2019 (61,7 Prozent) wurde insbesondere in den Großstädten und in Zentralpolen erzielt, traditionell Hochburgen der liberalen Mitte. Demgegenüber lag die Wahlbeteiligung im Osten und Südosten des Landes leicht unter dem Durchschnitt, und selbst in diesen PiS-Bastionen haben die Nationalkonservativen im Vergleich zu 2019 rund 10 Prozent ihres Wähleranhangs eingebüßt. In ganz Polen betrugen die Verluste mehr als 400 000 Stimmen.
Das erfreuliche Wahlresultat hatte sich in den Umfragen vor dem 15. Oktober nicht klar abgezeichnet. Das liegt auch daran, dass etliche davon auf Bestellung der verschiedenen politischen Akteure erfolgen oder Antworten wie „unentschieden“ unterschiedlich verrechnet werden. Letzteres war wohl eine der Ursachen dafür, dass die KWiN – der potenzielle Koalitionspartner der PiS – in den frühen Umfragen massiv überbewertet wurde (die am Ende nur auf 7,2 Prozent kam).
Dagegen gab es bei den Umfragewerten für TD und NL – die Juniorpartner der künftigen Koalition – erhebliche Schwankungen. Das Resultat vom 15. Oktober deutet darauf hin, dass ein größerer Teil der „Unentschiedenen“ wohl Oppositionswähler:innen waren, die sich bei den Vorwahlumfragen noch nicht sicher waren, welche der Oppositionsparteien ihre Stimme am nötigsten braucht. Angesichts solch taktischen Wahlverhaltens hat sich die umstrittene Strategie als richtig erwiesen, mit drei unterschiedlichen, aber partnerschaftlich verbundenen Wahlkomitees mit linker, liberaler und christdemokratischer Ausrichtung anzutreten, statt mit einer „demokratischen Einheitsliste“.
Die künftige Koalition verfügt über ein sattes Polster an Mandaten. Allerdings wird sie noch größere ideologische Unterschiede und noch mehr Spannungen aushalten müssen als die bundesdeutsche Ampel. Man muss sich das etwa so vorstellen, als würden sich in Bayern CSU, Freie Wähler, FDP, Grüne und Linkspartei zu einer Regierung zusammenfinden, um die AfD von der Macht fernzuhalten. Nur dass es sich in Polen um bis zu acht Gruppierungen handelt, die die drei genannten Wahlkomitees gebildet haben.
Die Schnittmengen zwischen den Parteien der „demokratischen Opposition“ sind nach acht Jahren PiS natürlich gewachsen. Aber genau das könnte sich für die künftige Regierung als Hypothek erweisen. Ein Beispiel: Die Bürgerplattform hat unter Donald Tusk einen (an Angela Merkel erinnernden) Schwenk in Richtung Mitte vollzogen, der sich auch auf soziale, feministische und queerpolitische Themen erstreckt. Das dürfte einer der Gründe für das schlechte Abschneiden der Neuen Linken sein, die im Vergleich zu 2019 fast die Hälfte ihrer Mandate eingebüßt hat, obwohl ihr Wahlprogramm auf Arbeitnehmerrechte sowie Frauen- und Jugendthemen ausgerichtet war.
Es ist kaum anzunehmen, dass die Linke ihre tiefsitzende Aversion gegen die wirtschaftsliberale Mitte über Nacht ablegen wird. Dagegen spricht etwa die Haltung der Partei namens Linke Gemeinsam (Lewica Razem, LR). Deren Abgeordnete, die über die NL-Liste in den Sejm eingezogen sind, wollen die Koalition zwar unterstützen, ihr aber zunächst nicht beitreten, weil sie ihre strikt linken Forderungen nicht ausreichend erfüllt sehen.
Ein weiteres Beispiel ist der Dritte Weg. Mit einem überraschend guten Wahlergebnis, das auf die Unterstützung in ländlichen Gegenden (auch in PiS-Hochburgen) zurückgeht, hat dieses liberal-konservative Bündnis entscheidend zur Beendigung der PiS-Herrschaft beigetragen. Das TD-Wahlkomitee bestritt seine Kampagne vor allem mit den Themen Wirtschaft, Bildung und Familie, aber auch mit einem ganzheitlichen Konzept im Bereich Landwirtschaft und Ökologie.
Ob der Fernsehmoderator Szymon Hołownia, dessen Partei mit der alteingesessenen Bauernpartei den Dritten Weg bildet, auf Dauer eine stabile Anhängerschaft aufbauen kann, bleibt abzuwarten. Gerade die polnische Provinz hat sich in den letzten zehn Jahren immer wieder enttäuscht von neu gegründeten Parteien abgewandt. Daran sind in den letzten Jahren politische Quereinsteiger wie der Unternehmer Janusz Palikot, der Wirtschaftsprofessor Ryszard Petru oder der Rockstar Paweł Kukiz gescheitert.
Jenseits möglicher Konflikte innerhalb der geplanten Koalition (siehe Kasten im Anschluss an diesen Text) muss die Regierung Tusk einigen politischen Sprengstoff entschärfen. Insbesondere was die Wiederherstellung des Rechtsstaats betrifft, steht sie hier vor einer Wahl wie zwischen Pest und Cholera: Soll sie die Amtszeiten der unrechtmäßig eingesetzten Richter „aussitzen“ oder soll sie schnelle und harte Maßnahmen ergreifen? Letztere würden, da die neue Regierung über keine verfassungsändernde Mehrheit verfügt, auf erneute formelle Rechtsverletzungen hinauslaufen.
Zudem behält die PiS eine beträchtliche Vetomacht in Gestalt des Staatspräsidenten und der von ihr berufenen Spitzen von Nationalbank, Verfassungsgerichtshof und Finanzaufsicht. Diese Vetomacht, die sie noch über Jahre hinaus ausüben kann, wird sie gnadenlos nutzen.
Es gehört zu den schwierigsten Aufgaben der neuen Regierung, einen gangbaren, aber rechtskonformen Ausweg aus dem Dilemma zu finden. Dass die Koalition darauf hinarbeitet, zeigt die Personalie des künftigen Justizministers. Für diesen strategischen Posten ist Adam Bodnar im Gespräch. Der frühere Ombudsmann für Bürgerrechte steht für die Verteidigung des Rechtsstaats ohne revolutionäre Methoden.
Ob diese Koalition tatsächlich mehr zustande bringen wird als eine weitere Umverteilung auf Pump und effekthascherische Symbolpolitik, muss sich erweisen. Noch aber ist sie nicht im Amt. Die Verzögerung der Kabinettsbildung durch den Staatspräsidenten Andrzej Duda, der zunächst „dem Wahlsieger“ PiS den Auftrag zur Regierungsbildung erteilte, war ein bewusstes Spiel auf Zeit. Die brauchte die PiS zur Aktenvernichtung und für öffentliche Ausschreibungen, über die sie die eigene Klientel noch auf den letzten Drücker mit staatlichen Geldern versorgt.
Der bisherige Premier Mateusz Morawiecki hat seine neue Regierung am 27. November vorgestellt, die sogleich von Staatspräsident Duda vereidigt wurde. Morawiecki hat nun bis zum 11. Dezember Zeit, zu demonstrieren, dass er keine parlamentarische Mehrheit hat. Erst danach kann der Sejm eine Regierung Tusk wählen. Die könnte allerdings erst am 13. Dezember, dem Jahrestag der Einführung des Kriegsrechts von 1981, vereidigt werden. Diese symbolische Gemeinheit hat Duda inszeniert, der verkündete, dass er am 11. und 12. Dezember „leider“ auf Auslandsreise ist.
Seit dem Wahltag ist es das Kalkül des Staatspräsidenten, die neue Regierung – trotz eines fertigen Koalitionsvertrags – erst Mitte Dezember zu vereidigen. Der so erzeugte Zeitdruck erschwert es der neuen Regierung, sich rechtzeitig die brachliegenden EU-Gelder zu sichern, wie auch die Termine für die Verabschiedung des Haushaltsgesetzes 2024 einzuhalten. Gelingt das nicht, könnte Duda das Parlament auflösen.
Präsident Dudas Spiel auf Zeit
Obwohl Dudas Umfeld das bisher bestreitet, will sich der Präsident vermutlich als Nachfolger von Kaczyński in Stellung bringen, dessen Abtreten den Zusammenhalt des nationalkonservativen Lagers gefährdet. Schon bei der Inauguration des Parlaments verwies Duda auf sein Vetorecht, das er dazu nutzen werde, die Errungenschaften der PiS zu sichern.
Die PiS wird wohl den Versuch unternehmen, die Strategie von 2014/15 zu wiederholen. Damals hatte sie ihren fulminanten Erfolg bei den Parlamentswahlen über die Kampagne zu den vorherigen Kommunal- und Regionalwahlen wie zu den Präsidentschaftswahlen aufgebaut.
Im Hinblick auf die Europawahlen Anfang Juni 2024 wird die PiS daher einen verschärften Anti-EU-Kurs fahren, um Abspaltungen nach rechts oder Abgänge in Richtung Dritter Weg zu verhindern. Allerdings ist nicht ausgeschlossen, dass auch die neuen Koalitionäre (oder zumindest Donald Tusk) insgeheim auf vorgezogene Neuwahlen nach den Präsidentschaftswahlen von 2025 spekulieren, um ihren Erfolg zu untermauern.
Außen- und europapolitisch dürfte die Wahl in Polen zu einem Wetterumschwung führen, der allerdings eher das Gesprächsklima verbessern als substanzielle Fortschritte bringen wird. Dafür sind die Vorstellungen von Liberalen und Linken zu unterschiedlich. Während die KO im Wahlkampf eher Einzelfragen wie die Aktivierung von EU-Mitteln für Investitionen in das Gesundheitswesen thematisierte oder über die Sicherung der EU-Ostgrenze sprach, forderte die NL ein soziales und demokratisches Europa, verstärkte Integration, die Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip und sogar den Beitritt Polens zur Eurozone.
Mit dieser Position konnte sich die NL offenbar nicht durchsetzen. Daher wird sich die Koalition wohl darauf beschränken, die militärische Kooperation innerhalb der Union besser zu organisieren und energischer auf den EU-Beitritt der Ukraine zu dringen. Mit Blick auf das östliche Nachbarland wird die neue Regierung – mit etwas Glück – schon im Laufe dieser Legislaturperiode einen Teil der „Kriegsdividende“ – in Form einer lukrativen Beteiligung Polens am ukrainischen Wiederaufbau – einstreichen können, die Kaczyński für sich selbst eingeplant hatte.5
Auch in den für Polen sensiblen Themen Migration, Wettbewerb und Beitritt zur Eurozone wird das Diskussionsklima sicher angenehmer werden, größere inhaltliche Fortschritte sind aber aus EU-Sicht eher nicht zu erwarten. Beim Klimaschutz sieht der Koalitionsvertrag die Kombination „Ausbau der Erneuerbaren plus Atomenergie“ vor, und auch der Umweltschutz soll ausgebaut werden. Die Kommunikation über diese Fragen wird sich hoffentlich so deutlich verbessern, dass von einer Rückkehr zur Normalität gesprochen werden kann.
Im Verhältnis zu Deutschland dürfte die antagonistische, ja feindselige Einstellung Kaczyńskis durch ein „realistisches Misstrauen“ gegenüber dem Nachbarland abgelöst werden. Allerdings wird auch eine künftige Tusk-Regierung einen gewissen „Sicherheitsabstand“ zu Deutschland wahren müssen, um dem sich weiter radikalisierenden nationalkonservativen Lager keine Angriffsfläche zu bieten.
1 Vgl. Przemysław Sadura, Sławomir Sierakowski: Społeczeństwo populistów (Krytyka Polityczna 2023).
2 Siehe dazu auch Corentin Léotard, „Getreide auf Abwegen“, LMd, September 2023.
3 Beide Gruppen sind allerdings in den zwei Kammern des Parlaments nach wie vor klar unterrepräsentiert: Der Anteil der Frauen ist nur unwesentlich auf 29 Prozent gestiegen, und im Parlament ist das Durchschnittsalter höher als je zuvor.
4 Laut Kaczyński soll Tusk zusammen mit Putin für den Absturz des Regierungsflugzeugs in Smolensk verantwortlich sein, bei dem 2010 der Präsident und über 90 polnische Parlamentarier und hohe Militärs ums Leben kamen. Zur Fixierung auf Tusk siehe Agnieszka Pufelska, „Polen zuerst“, LMd, März 2017.
5 Siehe Gert Röhrborn, „Kaczyńskis Kalkül“, LMd, Juli 2022.
Gert Röhrborn ist Autor und Übersetzer und lebt in Warschau und Belgrad.
© LMd, Berlin
Was die neue Koalition plant
Im Koalitionsvertrag verpflichten sich die Partner in der Präambel auf die Förderung von Sicherheit und Wohlstand der polnischen Gesellschaft im Geiste gutnachbarschaftlicher Zusammenarbeit. Auf den ersten Blick ist der Text eine gelungene Mischung mit den Schwerpunkten Bildungspolitik, Gleichstellung, Unterstützung für Landwirtschaft und Unternehmen sowie grünen Themen. Zu EU-Fragen schweigt sich die Koalition überraschenderweise aus.
Zudem lässt der Vertrag mindestens drei Sollbruchstellen erkennen. Die erste betrifft den Widerspruch zwischen Steuererleichterungen und Investitionen in den Ausbau des Wohlfahrtsstaats.
Auch die polnische Wirtschaft operiert unter schwierigen Rahmenbedingungen. Dies – in Kombination mit der ungeklärten Entwicklung der Staatsfinanzen – kann die neue Regierung schon in naher Zukunft in Bedrängnis bringen. Zwar bekam sie von der Börse eine Art Vertrauensvorschuss signalisiert, aber der kann schnell aufgebraucht sein, wenn sich die Koalition in innere Streitigkeiten verwickeln sollte, weil nicht alle angekündigten Vorhaben zu finanzieren sind.
Die angekündigte gesellschaftspolitische Liberalisierung birgt ebenfalls internen Sprengstoff. Der Koalitionsvertrag sieht die Wiedereinführung der staatlichen Förderung für IVF-Behandlungen vor, umfassende Leistungen für werdende Mütter sowie die gezielte Förderung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt.
Die Gretchenfrage der polnischen Politik ist jedoch nach wie vor das Thema Abtreibung. Die Frauenbewegung hat sich im Kampf gegen die PiS verjüngt und radikalisiert. Deshalb bringt sie auch der Bürgerplattform, die sich in der Vergangenheit beim Thema Abtreibung wankelmütig und taktisch verhalten hat, eine gesunde Skepsis entgegen.
Innerhalb der Koalition ist der Bremser in dieser Frage zwar der Dritte Weg, aber wenn sie nicht per Gesetz die Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs bis zur 12. Woche ermöglicht, wird man dies Donald Tusk anlasten. Angesichts dieser brisanten Frage wird die ebenfalls angemahnte Trennung von Kirche und Staat fast zum Randthema.
Auch die Bereiche Rechtsstaat, Medien und Kultur sind ein Minenfeld. Hier geht es vor allem darum, Institutionen und staatlichen Sicherheitsorgane wie Staatsanwaltschaft, Polizei und Geheimdienste von parteipolitischen Einflüssen unabhängig zu machen. Die KO hat durchgreifende Maßnahmen versprochen und muss deshalb zügig konkrete Schritte unternehmen.
Dazu ist die Regierung schon mit Blick auf die blockierten EU-Mittel gezwungen, die für die Finanzierung der geplanten Investitionen benötigt werden. Und auch der radikalere Teil ihrer Wählerschaft fordert eine konsequente gerichtliche Abrechnung mit der PiS-Regierung.