Nach der Parlamentswahl: Das liberale Polen atmet auf

Nr. 42 –

Die Pol:innen haben die rechtskonservative PiS-Regierung abgewählt. Ein liberales Mittebündnis aus drei Parteien strebt eine Koalition an. Damit könnte aber auch ein neoliberaler Kurs wieder Einzug halten.

Seit Dienstag ist es amtlich: Der neue starke Mann Polens heisst Donald Tusk. Dem liberalen Expremierminister (2007 bis 2014) ist ein Bärenanteil am Wahlerfolg der oppositionellen Parteien zuzurechnen – nicht nur der von ihm geführten Bürgerkoalition (KO), die mit 30,7 Prozent zweitstärkste Kraft hinter der noch regierenden PiS (35,4 Prozent) wurde. Auch die künftigen Koalitionäre des früheren EU-Ratspräsidenten Tusk – das liberalkonservative Zweiparteienbündnis Dritter Weg (TD, 14,4 Prozent) sowie die Neue Linke (8,6 Prozent) – konnten vom Wirbel profitieren, den dieser in den Wahlkampf eingebracht hat.

Genug von der Hetze

Schliesslich war es vor allem die Rekordwahlbeteiligung von fast 75 Prozent, die die PiS von der Macht verdrängte. Die neu Mobilisierten, insbesondere unter Fünfzigjährige, stimmten mehrheitlich für die drei Oppositionsparteien. 18- bis 29-Jährige wählten überproportional häufig die Linke oder die nationalistisch-libertäre Konfederacja, die aber mit 7,1 Prozent überraschend schwach abschnitt. Die künftigen Koalitionäre verfügen über eine komfortable Mehrheit von 248 Mandaten im 460 Sitze zählenden Sejm, der kleinen Parlamentskammer, sowie 66 von 100 Mandaten im Senat.

Doch warum verlor die Partei von PiS-Übervater Jarosław Kaczyński? Ein Gros der Pol:innen war offenbar vom schrillen, auf den Faktor Angst setzenden PiS-Wahlkampf abgeschreckt worden: von der Angstmache vor «illegalen Migranten» und dem angeblich Berlin-hörigen Tusk. Der hetzerische Ton gegenüber Geflüchteten deckte sich wohl nicht mit dem Erfahrungshorizont von Millionen von Wähler:innen, die ihre zunehmenden Kontakte mit Migrant:innen nicht mit «Gewalt und Terror» assoziieren – Begriffe, die die PiS und ihr nahestehende Medien bewirtschafteten. Auch waren die mitunter absurden Angriffe auf Tusk nach einigen Monaten selbst für Tusk-Skeptiker:innen nur noch mit Galgenhumor zu ertragen. «Die PiS bemerkte nicht, dass sie sich in einer eigenen Blase eingeschlossen hat», notiert Michał Szułdrzyński in der Tageszeitung «Rzeczpospolita». «Jegliche Kritik an sich wertete sie als Dienste im Sinne ausländischer Interessen oder als Ausdruck des Hasses gegenüber patriotischen Werten.»

Auch der Dauerstreit der PiS mit der EU vor allem über die Justizreformen (und damit einhergehend die bis heute nicht an Polen ausgezahlten 35 Milliarden Euro aus dem EU-Corona-Wiederaufbaufonds) dürften europafreundliche Wähler:innen kaum ins PiS-Lager gelockt haben. Dauerstreit mit der EU oder gar ein «Polexit» ist für EU-affine Pol:innen ein absolutes No-Go.

Trotz des klaren Erfolgs: Die Opposition steht vor harten Wochen. Erwartet wird zunächst eine mehrwöchige Hängepartie. Staatspräsident Andrzej Duda, früher selbst Mitglied und der PiS immer noch nahestehend, hat angekündigt, zunächst die Siegerpartei mit der Regierungsbildung zu beauftragen. Es wäre ein kurioser Vorgang, weil keine der anderen Parteien mit der PiS verhandeln will. Sollte die neue Regierung Ende Jahr dann aber stehen, wird sie mit – oder vielmehr gegen – Präsident Duda regieren müssen. Denn in Polens halbpräsidentialem System hat der Staatspräsident erhebliche Machtbefugnisse – in der Aussenpolitik, als Oberbefehlshaber der Armee, vor allem aber über sein Vetorecht. Sein Nein gegen jedes vom Parlament verabschiedete Gesetz kann bei einer erneuten Vorlage im Sejm nur mit einer Dreifünftelmehrheit überstimmt werden. Und über die verfügt die Opposition nicht. Mindestens bis zu den Präsidentschaftswahlen Mitte 2025 wird Duda so manches blockieren können.

Schnelle Erfolge würden aber selbst dann, wenn Duda kooperativ agiert, nicht einfach zu haben sein. Auch zwischen den drei Koalitionsparteien dürften schnell Bruchstellen offenbar werden: sei es bei der Frage des Abtreibungsrechts – bei dessen Liberalisierung sich KO und Linke einig sind, die TD hingegen ein Referendum will – oder bei der Sozial-, Wirtschafts- und Steuerpolitik. Vor allem die Linke, die schwächste Partei der künftigen Koalition, dürfte gegenüber den als wirtschaftsnah geltenden Parteien KO und TD bei vielen ihrer Flaggschiffprogramme das Nachsehen haben – wie etwa bei der Einführung der 35-Stunden-Woche oder einem staatlichen Wohnungsbauprogramm.

Wieder näher zu Brüssel?

Indes dürften viele der von der PiS in den letzten Jahren angestossenen Programme in der Sozial- und Wirtschaftspolitik weiter bestehen. Ob das auch für die PiS-Politik der proaktiven Investitionspolitik und der Rückkäufe einst privatisierter Betriebe gelten wird, ist fraglich. Unklar ist auch, was die neue Koalition mit den enormen Rüstungsinvestitionen der PiS anstellen wird. Für dieses Jahr hatte diese die Verteidigungsausgaben auf ein Rekordhoch von 3,9 Prozent des Bruttosozialprodukts geschraubt, für 2024 sind gar über 4 Prozent geplant.

Einigkeit zwischen den Koalitionspartnern dürfte bei der Politik gegenüber der Ukraine herrschen – die Unterstützung für Kyjiw wird weitergehen. Auch betonten die Führungen aller drei Parteien, Polen wieder näher an Brüssel bringen zu wollen. Die Warschauer Börse jedenfalls liess zu Wochenbeginn die Korken knallen: Der Leitindex stieg stark, die polnische Währung Złoty notierte stärker. Polen nimmt wieder Kurs auf Europa – mit einem wirtschaftsliberalen Kapitän am Steuer.