Flüchtlingspolitik: Wo beginnt die EU?

Nr. 4 –

Die europäische Grenzschutzagentur Frontex ist in immer mehr Drittstaaten tätig – seit über einem Jahr auch in Serbien. Ein Besuch im Grenzgebiet.

altes Saatgutlager in der serbischen Kleinstadt Sombor nahe der Grenze zu Ungarn
Altes Saatgutlager in der serbischen Kleinstadt Sombor nahe der Grenze zu Ungarn: Innerhalb dieser Hallen leben Geflüchtete in Zelten. Foto: Enzo Leclercq

Vier bis fünf Silhouetten erscheinen in der Dunkelheit. Die Männer machen mit kleinen Ästen und Plastikmüll ein Feuer, um Chai zu kochen. Ein ausführliches Interview möchte keiner geben. Zu gross ist ihre Angst, identifiziert zu werden. Ihre Arbeit ist es, Flüchtende über die serbisch-ungarische Grenze zu schleusen; sie sind Schmuggler, und das ist illegal. Auch wenn sich das Gerücht hartnäckig hält, dass die serbische Polizei mit Schmugglern wie ihnen zusammenarbeite.

Eigentlich sollte die sogenannte Balkanroute seit 2016 geschlossen sein. Doch anhaltende Kriege und Krisen bringen Menschen dazu, die Flucht trotzdem zu wagen. Aktuell versuchen die meisten Flüchtenden, von Serbien weiter nach Ungarn zu gelangen. Die ungarischen Behörden wenden an der Grenze Gewalt an. Täglich begehen sie brutale und illegale Pushbacks. 2020 stellte Frontex deshalb seine Tätigkeit an der ungarischen Grenze zu Serbien ein. Zuvor hatten die obersten EU-Richter wegen der ungarischen Pushbacks nach Serbien das ungarische Asylsystem für rechtswidrig erklärt. Geändert hat sich damit wenig. Seit Dezember 2022 ist die EU-Grenzschutzbehörde statt in Ungarn in Nordserbien nahe der ungarischen Grenze im Einsatz.

Frontex hat in den ersten zehn Monaten von 2023 auf der Route von Serbien nach Ungarn 97 300 irreguläre Grenzübertritte gezählt. «Das ist etwas mehr als ein Fünftel weniger als vor einem Jahr», heisst es in einem schriftlichen Statement der Grenzschutzagentur.

Keine Hilfe

Die Lichtung ist von Gestrüpp und ein paar Bäumen gesäumt. Früher war hier wohl mal eine Art Spielplatz, heute stapeln sich Essensvorräte auf der Tischtennisplatte. Da, wo früher Basketball gespielt wurde, rasiert gerade ein Mann einem anderen die Haare ab. Etwa hundert Männer stehen in kleinen Grüppchen herum. Die meisten von ihnen wirken jung, ihre Kleidung ist abgenutzt, ihre Gesichter frustriert.

«Uns fehlt es an allem, hier gibt es gar nichts», sagt einer von ihnen in gutem Englisch. Er hat kurzes Haar, trägt eine dunkle Winterjacke. Er war früher Lehrer in Damaskus, aber in seiner kriegs- und krisengebeutelten Heimat gibt es für ihn keine Zukunft mehr. Jetzt ist er hier, auf einem heruntergekommenen Spielplatz in der Kleinstadt Sombor in Nordserbien. Sein Ziel ist die EU. Seine Heimat liegt etwa 2500 Kilometer entfernt, der EU-Staat Ungarn weniger als 30 Kilometer.

Um ihn herum versammeln sich immer mehr Männer, alle aus Syrien oder dem Irak, wie einer von ihnen sagt. Sie sind aufgebracht, sie rufen dem ehemaligen Lehrer verzweifelt klingende Wörter und Sätze entgegen. Er soll übersetzen. «Es fehlen Medikamente. Wunden können wir hier nicht behandeln, Allergien …», immer wieder fallen ihm andere ins Wort.

Unterstützung für die Männer gebe es hier keine. Hilfsorganisationen würden mit ihren Gütern nicht mehr in die Nähe der Flüchtenden gelassen. Die Polizei sperre das Areal grossflächig ab. Einige seien schon seit mehr als zwei Wochen auf diesem ehemaligen Spielplatz. Er befindet sich direkt neben dem serbischen Auffanglager in Sombor. Das Lager sei überfüllt, man könne sich dort nicht mehr registrieren lassen, sagt der Lehrer. Anfragen, direkt aus diesem oder einem anderen Auffanglager berichten zu dürfen, wurden alle abgelehnt. «Wir haben Angst, diesen Ort hier zu verlassen», fährt der Lehrer aus Damaskus fort. Überall sei Polizei, und dieser trauen hier viele nicht mehr.

Die bereits angespannte Situation spitzte sich im letzten Oktober weiter zu – wegen einer Schiesserei unter Schmugglern in Nordserbien. Es war nicht der erste solche Vorfall, aber die Reaktion der Behörden war dieses Mal besonders heftig. Denn am 17. Dezember wurde in Serbien das Parlament neu gewählt. Anfang November startete die Regierung im Norden Serbiens eine Sonderoperation. Sogenannte Squats – Orte im Wald oder Ruinen, in denen Schmuggler die Geflüchteten unterbringen – wurden geräumt, die Flüchtenden von der serbischen Polizei in staatliche Auffanglager transportiert. Das berichteten Hilfsorganisationen und die lokale Presse.

Das Gerücht, wonach die Polizei heimlich mit den Schmugglern zusammenarbeite, steht im Widerspruch zum harten Durchgreifen der Behörden. Eine Interviewanfrage an die serbische Polizei bleibt unbeantwortet. Mit den Schmugglern selbst ins Gespräch zu kommen, ist schwierig.

Zukunft im Grenzwald

Knapp hundert Kilometer von Sombor entfernt, nahe der kleinen Ortschaft Šid und unweit der kroatischen und bosnischen Grenze, blinken die Lichter eines Grenzübergangs. Es ist bereits seit einigen Stunden dunkel. In einem Waldstück nahe der Grenze lebe eine Gruppe afghanischer Schmuggler, heisst es. Wer sich ihnen nähern will, sollte Regeln befolgen: Auf dem Wiesenweg, der zum Wald führt, müssen die Autoscheinwerfer ausgeschaltet werden. Dann hört der Weg auf. Irgendwo jaulen wilde Hunde. Oder Wölfe. Es ist stockdunkel. Auch die Taschenlampe ist tabu. Der verbleibende Fussmarsch über Felder und durch den Wald dauert etwa fünfzehn Minuten.

Die fünf afghanischen Männer, die sich hier über dem offenen Feuer Chai kochen, sind alle jung. Derjenige, der in der Gruppe wohl am meisten zu sagen hat, ist etwa Mitte zwanzig. Der Jüngste sagt, er sei gerade mal siebzehn Jahre alt. Sie alle hätten nicht mehr in Afghanistan bleiben können, erzählen sie. Die wirtschaftliche Situation sei katastrophal, die Taliban unberechenbar. Während ihrer Flucht sei ihnen das Geld ausgegangen. Deshalb tun sie heute das, was ihnen in ihrer Lage als einzige Möglichkeit erscheint, Geld zu verdienen.

Auf ihrer bisherigen Flucht bis in den Norden Serbiens hätten sie viel Gewalt erlebt: «Ich kann darüber aber nicht sprechen», sagt einer von ihnen. «Ich habe davon noch nicht mal meiner Mutter erzählt.» Lieber reden sie in dieser Nacht über den Traum, in Europa zu leben. Dort einem anständigen Job nachzugehen. Ein normales Leben zu führen. Raus aus diesem dreckigen Geschäft. Einer von ihnen ist schon seit mehreren Jahren hier, ein anderer erst seit zehn Tagen. Die bessere Zukunft, für die sie ihre Heimat verlassen haben – sie liegt nicht hier in diesem matschigen Grenzwald.

Nur Anweisungen geben

Weiter im Norden liegt die malerische Stadt Subotica. Etwas abseits der historischen Gebäude leben Geflüchtete in alten Ruinen. Die Helfer:innen von Medical Volunteers International (MVI) besuchen sie regelmässig. Sie schulen sie in der Versorgung von Wunden und Blasen, leisten im Notfall auch lebensrettende Erstversorgung. Kate ist eine der zwei Koordinatorinnen der Organisation. Sie lebt gemeinsam mit Pflegekräften, Ärztinnen und Rettungssanitätern in einem beschaulichen Haus am Stadtrand. Die medizinischen Fachkräfte sind ehrenamtlich in Nordserbien – und nur auf Zeit.

«Wir wissen nicht, ob wir heute Menschen auf der Flucht antreffen werden», sagt Kate im Auto unterwegs nach Horgoš. Das Dorf liegt nördlich von Subotica, noch näher an der serbisch-ungarischen Grenze. In den Wochen und Monaten vor den Wahlen habe es immer wieder Razzien gegeben. Die serbischen Beamt:innen hätten mehrere Squats geräumt. Auch Frontex-Leute, das erzählen Flüchtende später, seien dabei gewesen. Die Beamt:innen der EU-Agentur würden aber nur Anweisungen geben und im Normalfall nicht selbst Hand anlegen.

Während der Räumungen hätten serbische Polizist:innen Gewalt angewandt – und manche der Flüchtenden verletzt. Der Frontex-Pressesprecher Piotr Świtalski sagt: «Sobald ein Angehöriger bei Frontex irgendeine Menschenrechtsverletzung feststellt, muss durch ihn selbst ein ‹serious incident report› angefertigt werden.» Man müsse aber auch berücksichtigen, dass es bei «politischen Einsätzen bei der Durchsetzung von Vollzugsaufgaben auch zur Anwendung von Zwangsmassnahmen kommen kann». Über hundert Frontex-Beamt:innen mit 25 Fahrzeugen seien aktuell im Einsatz an der ungarischen und der bulgarischen Grenze in Serbien.

Die serbische Polizei kontrolliert das Auto von MVI mehrmals auf dem Weg nach Horgoš. Heute darf es passieren. Der Fokus der Kontrollen liegt auf den Taxis. Für die meisten Geflüchteten sind sie die einzigen Transportmittel in Serbien.

Ein holpriger Feldpfad führt zum ersten Squat. Es besteht aus mehreren Backsteingebäuden. Sie haben keine Fenster mehr, Teile der Dächer und der Wände fehlen ebenfalls; arabische Schriftzüge prangen an den Fassaden. Es ist still an diesem verlassenen Ort. «Hier hielten sich teils mehrere Hundert Personen auf», sagt Kate. Das war vor der «Sonderoperation» der serbischen Behörden. «Es ist traurig, hier niemanden zu sehen», sagt  Kate. «Nur weil die Menschen auf der Flucht nicht hier sind, heisst es ja nicht, dass es ihnen gut geht.» Auch die anderen Squats sind heute verlassen oder wegen Polizeisperren für die NGO-Mitarbeiter:innen nicht erreichbar.

Zurück im Zentrum von Horgoš. Zwei Autos der deutschen Bundespolizei fahren durch das Städtchen. Die jungen Beamten in Uniform setzen sich in ein kleines Café. Auch sie lehnen ein Interview ab. Die Frontex-Beamt:innen seien hier allgegenwärtig, erzählt die lokale Journalistin Natalija Jakovljević. «Man sieht sie abends in Bars, in Suboticas Altstadt oder auf der Schnellstrasse im Auto», sagt sie. Anfangs hätten sich die Leute noch über die deutschen Polizeiautos in ihren Strassen gewundert – und Fragen gestellt. «Aber unsere Polizei rückt keine Informationen zum Frontex-Einsatz heraus.» Mittlerweile habe man sich hier an die Präsenz der Agentur gewöhnt. Dass sie etwas zum Besseren verändere, glaube aber niemand.

Auch Natalija Jakovljević ist davon überzeugt, dass die serbische Polizei mit den Schmugglern zusammenarbeitet. Und Frontex? Die Agentur hat auf die Fragen der WOZ nicht reagiert.

In Sombor haben die jungen Männer in der abgenutzten Kleidung noch nichts von Frontex oder der deutschen Bundespolizei in Nordserbien gehört. Einige hätten Begegnungen mit Frontex-Beamt:innen in Griechenland gehabt – keine guten. Aber sie scheinen nur nach vorn schauen zu wollen. «Wir stecken fest», sagt der Lehrer aus Damaskus. «Wir können nicht in unsere Heimatländer zurück, wir können hier nicht weg, und eigentlich wollen wir einfach weiterreisen, um endlich in Sicherheit zu leben.»