Japan nach Shinzo Abe: Die Überheblichkeit bleibt

Nr. 28 –

Nach dem Tod des früheren Premiers keimte in Japan die Hoffnung auf einen politischen Richtungswechsel. Doch das Land fährt die Demokratie weiter zurück.

Es war für Japan das einschneidendste Ereignis des Jahres: die Ermordung des früheren Premierministers Shinzo Abe am 8. Juli 2022. Vor allem die Rechte im Land zeigte sich schockiert. Abe war ihr unbestrittener Führer gewesen, der auch nach seinem Rücktritt vom Amt des Ministerpräsidenten im September 2020 die japanische Politik beeinflusste.

Abe hatte Japan neun Jahre lang regiert, von 2006 bis 2007 und von 2012 bis zu seinem Rücktritt im September 2020 – so lange wie kein Premier vor ihm. Seine Amtszeit wurde von europäischen und US-amerikanischen Medien zum grossen Teil äusserst unkritisch begleitet. Insbesondere in den USA gelte die Entwicklung Japans nach 1945 als Erfolgsstory, sagt der an der Sophia-Universität in Tokio lehrende Politikprofessor Kōichi Nakano. Der wirtschaftsliberale Abe wurde von vielen als Stabilitätsanker wahrgenommen.

Dabei liess sich der Vorsitzende der Liberaldemokratischen Partei (LDP) von einer rechtsnationalen und konservativ-religiösen Agenda leiten. Es ging Abe darum, das «Nachkriegsregime», wie er es nannte, zu überwinden, das für Rechtsstaatlichkeit und individuelle Freiheiten steht und eine Armee lediglich als Selbstverteidigungskräfte vorsieht. Abe ging etwa bei der nationalistischen Lobbygruppe Nippon Kaigi ein und aus.

Abgestürzt bei der Pressefreiheit

Abes rückwärtsgewandter Kurs in Richtung des faschistischen Vorkriegsjapan ging mit einem kompletten Geschichtsrevisionismus einher. Im Gegensatz zu einigen Vorgängern wollte er kaum Verantwortung für die Opfer der japanischen Gräueltaten im Zweiten Weltkrieg übernehmen. Und wie schon andere Regierungschefs besuchte Abe den umstrittenen Yasukuni-Schrein, wo der japanischen Kriegstoten gedacht wird, darunter auch verurteilter Kriegsverbrecher.

Dass er ab 2013 die Besuche am Schrein unterliess und viele seiner reaktionärsten Pläne nicht umsetzte, führen viele japanische Beobachter:innen auf das Nachkriegsbündnis mit den USA zurück. Auch unter Abe spielte Japan gegenüber den USA die Rolle des unterwürfigen Juniorpartners vorzüglich. Dennoch haben die Jahre unter ihm den Staat nachhaltig verändert: Mit einer Gesetzesänderung 2015 etwa erlaubte Abe den Selbstverteidigungskräften die sogenannte kollektive Selbstverteidigung. Japan, dessen Armee bis dato auf Friedenssicherung ausgerichtet gewesen war, wurde damit zu einer Nation, die überall auf der Welt Verbündeten beispringen und Kriege führen kann.

Die 1947 eingeführte japanische Demokratie, die immer auf wackligen Beinen stand – seit 1955 regiert fast durchgehend nur die LDP –, wurde weiter zurückgefahren. Abe hat etwa die Unabhängigkeit der Zentralbank und des öffentlich-rechtlichen Rundfunks NHK beschnitten. Danach stürzte das Land beim internationalen Ranking der Pressefreiheit förmlich ab und liegt zurzeit unter 180 Staaten nur noch auf Rang 68.

Nach einer kurzen Amtszeit von Yoshihide Suga (LDP) kam im Oktober 2021 Fumio Kishida an die Macht – Chef einer gemässigten Fraktion innerhalb der LDP. Viele in Japan hielten damals einen Politwechsel für möglich, zumal Kishida gleich zu Beginn seiner Amtszeit einen neuen Kapitalismus mit mehr Umverteilung versprach und Abes Wirtschaftsprogramm «Abenomics» (geprägt von Geldschwemme, Konjunkturprogrammen und Deregulierung) indirekt kritisierte.

Opposition in Sorge

Doch der neue Premier entpuppte sich als zu schwach, um Gegensteuer zu geben. So wenigstens sehen es viele Beobachter:innen in Japan. Kishidas Fraktion ist bloss die viertstärkste in der LDP und weniger als halb so gross wie die Gefolgschaft Abes. Diese für ihre harte Linie bekannte Gruppe verteidigt ihre zentrale Position auch nach Abes Tod mit allen Mitteln. Kishida wird nachsagt, dass er sich in der Partei keine Feind:innen machen und möglichst lange an der Regierung bleiben wolle. Offenbar hat er eingesehen, dass er seine Macht stabilisieren kann, wenn er vorgespurte Pfade beschreitet, und dass ein Abweichen von diesen in der LDP zurzeit nicht möglich ist. Er hat im vergangenen Dezember durch Kabinettsbeschluss eine Verdopplung des Wehretats innerhalb von fünf Jahren in die Wege geleitet und mögliche Präventivschläge auf feindliche Stützpunkte erlaubt. Ausserdem will er Abes expansive Atomkraftpolitik beibehalten und neue AKWs bauen lassen.

Grosse Sorgen um die Zukunft Japans macht sich ein Teil der Opposition. Hiroshi Kawauchi sass bis Oktober 2021 lange Jahre für die grösste Oppositionspartei, die linksliberale KDP, im Unterhaus. Ihm macht vor allem die Gefahr Angst, dass Japan in einen bewaffneten Konflikt zwischen den USA und China geraten und Kriegsschauplatz werden könnte. Kawauchi kennt den Regierungschef Kishida gut, da dieser im Parlamentarier:innengebäude sein Büronachbar war. Er hält Kishidas Politik nicht einfach für strategisch, sie sei vielmehr ideologisch motiviert: «Kishida hat wenig gemein mit den früheren Spitzen seiner Fraktion, die liberal eingestellt waren.» Und weil er nicht das Charisma von Abe habe, um die Partei zusammenzuhalten, versuche er, mit einer noch rechteren Politik zu trumpfen.

Auch Japans Demokratiedefizite seien nach Shinzo Abes Tod gleich gross geblieben. Nach wie vor würden in Parlamentsdebatten Voten der Opposition mit derselben Ignoranz und Überheblichkeit beantwortet wie zu Zeiten Abes, so Kawauchi.