Japan: Das gefährdete Versprechen, nie mehr in den Krieg zu ziehen

Nr. 25 –

Ministerpräsident Shinzo Abe will mit neuen Gesetzen das japanische Pazifismusgebot über Bord werfen. Doch sein Vorhaben könnte nun trotz deutlicher Parlamentsmehrheit scheitern – dank einer breit abgestützten, basisdemokratischen Friedensbewegung.

Es ist nicht auszuschliessen, dass «die japanischen BürgerInnen» den nächsten Friedensnobelpreis gewinnen. Dies, weil sie gerade dabei sind, ihre pazifistische Staatsverfassung zu verteidigen. Das ist jedenfalls die Einschätzung des norwegischen Nobel-Komitees, wie letzte Woche bekannt wurde.

Tatsächlich wenden sich derzeit viele JapanerInnen gegen ihren Ministerpräsidenten Shinzo Abe, der derzeit das Parlament zu überzeugen versucht, Gesetze zur «kollektiven Selbstverteidigung» zu verabschieden. Abe begründete seine Gesetzesvorlagen zwar auch mit Friedenssicherung. Doch sie würden Japan vielmehr ermöglichen, sich an Kriegen seiner Alliierten – insbesondere der USA – zu beteiligen.

Die Gesetze widersprächen dem Pazifismusgebot des Verfassungsartikels 9, sagt Hideki Sakabe: «Abes Politik ist ein Angriff auf unsere Identität, auf das, was das Nachkriegsjapan im Kern ausmacht – nämlich den Frieden und das Versprechen, nie mehr in einen Krieg zu ziehen.» Der Siebzigjährige ist Mitglied von 9jo no Kai (Vereinigung Artikel 9). Das Netzwerk ist eine wichtige Stütze der Friedensbewegung, die mittlerweile Tausende BürgerInnen auf die Strassen Tokios und anderer Grossstädte bringt.

Mitreissende Intellektuelle

Gerne erinnert sich Sakabe an die Gründungszeit von 9jo no Kai im Jahr 2004 zurück. Damals schickte die regierende Liberaldemokratische Partei (LDP) japanische Soldaten in den Irak. Auch wenn es kein bewaffneter Einsatz war, folgte daraufhin eine breite Diskussion um den Pazifismusartikel. Auslöser waren neun namhafte Intellektuelle um den Literaturnobelpreisträger Kenzaburo Oe, die die BürgerInnen zum Protest aufriefen. Da sie von den wichtigen Medien ignoriert wurden, bedienten sie sich alternativer Kanäle und reisten durch Japan, um die Menschen zu erreichen.

Es waren vor allem ältere Leute aus der Generation Sakabes, bei denen die Appelle auf offene Ohren stiessen. Sie waren kurz nach dem Ende des verlorenen Zweiten Weltkriegs aufgewachsen; als Kinder hatten sie unter Hunger gelitten und erfuhren noch hautnah von ihren Eltern vom Schrecken des Krieges. In den sechziger Jahren las Sakabe Marx und engagierte sich in der Studentenbewegung. Wie viele andere auch war er davon überzeugt, dass eine bessere, sozialere Welt möglich sei. Doch solche Visionen hatten nach 1975 im reich, aber auch konservativ gewordenen Japan keine Chance mehr.

Die intellektuelle Opposition um Oe brachte ab 2004 wieder eine breitere Bevölkerungsschicht dazu, die herrschenden Verhältnisse infrage zu stellen. Innerhalb weniger Jahre entstanden so landesweit 7500 Gruppierungen unter dem Schirm von 9jo no Kai. «Unser Widerstand war mitverantwortlich dafür, dass die LDP ihre Pläne zur Verfassungsänderung aufgeben musste», sagt Yoichi Komori, eine der Schlüsselfiguren der Vereinigung.

In seiner Stadt Kakegawa, die 185 Kilometer südwestlich von Tokio am Pazifischen Ozean liegt, trifft sich Sakabe seither regelmässig mit Gleichgesinnten. «Am Anfang waren zum Beispiel ein buddhistischer Mönch, ein Kindergartenbesitzer, eine Jugendliteraturforscherin und ein Lokalzeitungsverleger dabei», sagt Sakabe. «Heute umfasst der harte Kern rund zehn Leute, die sich einmal pro Monat treffen, um jeweils einen Aktionsplan festzusetzen. Einen Chef gibt es nicht.» Jeder sei willkommen, ungeachtet der ideologischen Ausrichtung. Die einzige Voraussetzung sei, dass einem der Pazifismusartikel 9 am Herzen liege.

Ambivalente USA

Dass der Pazifismus in der japanischen Gesellschaft so stark verankert ist, führt der bedeutende Philosoph und Aktivist Kojin Karatani auf die «Albträume und Schamgefühle» zurück, die nach der Kapitulation im Zweiten Weltkrieg aufkamen: Vielen sei bewusst geworden, für welches Unrecht Japan in Asien verantwortlich war. Und die 1947 von der US-Besatzungsmacht geschriebene neue Verfassung hat die pazifistische Grundhaltung verstärkt: Sie sollte die Macht der alten japanischen Eliten brechen und ihren Grossmachtallüren ein für alle Mal den Riegel vorschieben – durch besseren Schutz der Grundrechte, durch Demokratisierung und vor allem eben das Pazifismusgebot.

Doch von Anfang an bekämpften konservative Kreise und der rechte Flügel der seit 1955 fast ununterbrochen regierenden LDP die pazifistische Politik. Ihnen war und ist die komplette liberale Verfassung zuwider, sehnen sie sich doch bis heute nach einem autoritären Regime zurück. Doch auch ausgerechnet seitens der USA ist der Pazifismusartikel unter Beschuss geraten. Seit den fünfziger Jahren, als sie im Koreakrieg Hilfe brauchten, haben sie Japan immer wieder zu mehr «militärischer Verantwortung» gedrängt. Unterstützt wird dieses Ansinnen ebenfalls von der japanischen Rüstungsindustrie.

Bedrängter Abe

Dennoch hat sich bisher keine Regierung an eine Änderung des Verfassungsartikels 9 getraut, weil der pazifistische Widerstand garantiert ist. Der Philosoph Karatani ist überzeugt, dass auch Abe – entgegen allen Spekulationen – keine Verfassungsreform wagen werde aus Angst, die obligatorische Volksabstimmung zu verlieren. Stattdessen höhlt die politische Elite seit Jahren das Pazifismusgebot einfach Schritt für Schritt aus – angefangen bei der sukzessiven Aufrüstung der sogenannten Selbstverteidigungsstreitkräfte. Und nun folgen die Gesetze zur Ermöglichung von Kriegseinsätzen.

Lange Zeit hat es so ausgesehen, als ob Abe sein Vorhaben relativ leicht durch das Parlament bringen würde. Immerhin weiss er dort eine deutliche Mehrheit hinter sich. Doch in den letzten Wochen hat die Stimmung umgeschlagen. Selbst in der LDP-Basis wächst der Widerstand gegen den Parteipräsidenten. Dazu beigetragen hat nicht zuletzt die zunehmende Zahl von VerfassungsrechtlerInnen, die die Gesetze zur «kollektiven Selbstverteidigung» als verfassungswidrig bezeichnen. Das hat viele aufhorchen lassen. Die ParlamentarierInnen können auch kaum noch die zunehmenden Proteste ignorieren: 25 000 Menschen waren es letzten Sonntag, die vor dem Parlamentsgebäude in Tokio «Sensohoan seiritsu hantai» skandierten: «Wir sind gegen die Kriegsgesetze.»

Hinzu kommt, dass Abes einst komfortable Popularitätswerte zurückgehen (vgl. «Schwindende Popularität» im Anschluss an diesen Text). Doch um Abe tatsächlich stoppen zu können, wird die Friedensbewegung in den kommenden Wochen noch weiter wachsen müssen. Helfen könnte ihr dabei, dass sich basisdemokratische Strukturen, wie sie 9jo no Kai vorlebt, in Japan mehr und mehr festsetzen. Selbst bei den Jüngeren, die sich bisher zuallererst um ihr wirtschaftliches Überleben gekümmert haben, steigt das Interesse am Thema – wenn auch nur langsam.

Schwindende Popularität

Gemäss der neusten Befragung der Nippon-Fernsehgesellschaft vom Sonntag unterstützen nur noch 41 Prozent der JapanerInnen ihren Ministerpräsidenten Shinzo Abe. Die Zustimmungsrate fiel innerhalb eines Monats um mehrere Prozentpunkte auf dieses Allzeittief.

Laut der Umfrage sind der Grund die geplanten Gesetze zur «kollektiven Selbstverteidigung», die von 62,5 Prozent der Befragten abgelehnt werden. Abes als «Abenomics» bekannte Wirtschaftspolitik (mit der nicht zuletzt die Deflation bekämpft werden soll) findet gemäss Befragung weiterhin breite Zustimmung.