Sky Shield: Mit Rückenwind im Cockpit
Viola Amherd stellt die Weichen in der Sicherheitspolitik neu. Was andere denken, interessiert sie wenig – die Verteidigungsministerin geniesst im Bundesrat eine Machtposition.
Die Stimmung ist gut an diesem Freitag in Bern. Bundesrätin Viola Amherd hat beim Empfang ihrer deutschen und österreichischen Amtskolleg:innen Boris Pistorius und Klaudia Tanner keinen Aufwand gescheut: «Danke, Viola, dass du auch für die Sonne gesorgt hast», sagt Pistorius zu Beginn der Medienkonferenz. Die zur Schau gestellte «Freundschaft» ist programmatisch für die sicherheitspolitische Zusammenarbeit der drei Staaten: «Man kann befreundet sein, ohne verbündet zu sein», sagt Pistorius. Nur: Worin besteht genau der Unterschied?
Tanner und Amherd einigten sich vergangene Woche mit Pistorius auf die Unterzeichnung einer Absichtserklärung. Die beiden neutralen Staaten wollen sich in Zukunft an der European Sky Shield Initiative (ESSI) beteiligen, einem gemeinsamen europäischen Luftabwehrsystem nach dem Vorbild des israelischen Iron Dome.
Offiziell geht es bei der Kooperation derzeit noch primär um Mengenrabatt, etwa beim Einkauf des israelischen Flugabwehrsystems Arrow oder des Systems der deutschen Firma Diehl. In Zukunft soll der Zusammenschluss aber nicht nur Schnäppchen auf dem Rüstungsmarkt ermöglichen, sondern auch sogenannte Interoperabilität gewährleisten: Die Systeme der beteiligten Staaten sowie ihr Einsatz sollen aufeinander abgestimmt werden.
«Neutralitätspolitische Vorbehalte»
Das VBS beschreibt die ESSI offiziell als «Initiative Deutschlands zur bodengestützten Luftverteidigung (Bodluv) in Europa». Das ist nicht falsch. Hinter dem Projekt steckt allerdings die Nato. Entsprechend fand die Erstunterzeichnung im vergangenen Oktober auch nicht in Berlin, sondern in Brüssel statt, wo das Militärbündnis seinen Hauptsitz hat. Sämtliche fünfzehn Länder, die das Abkommen damals unterzeichnet haben, sind Nato-Mitglieder.
Während Bundesrätin Amherd die Nato im Zusammenhang mit Sky Shield mit keiner Silbe erwähnt, lässt das deutsche Verteidigungsministerium diesbezüglich keine Fragen offen: «Mit ESSI wird der europäische Pfeiler in der Nato gestärkt. Es ist beabsichtigt, die ausgebauten oder neu geschaffenen Fähigkeiten der gemeinsamen Beschaffungsinitiative in die vom Nato-Befehlshaber für Europa geführte Luftverteidigung des Nato-Gebietes einzubinden», heisst es auf der entsprechenden Website. «Für mich heisst das unmissverständlich: Die Leitung des Projekts soll künftig in der Hand der Nato liegen», sagt Anja Gada von der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA). «Ist das mit unserer Neutralitätspolitik vereinbar?», fragt Gada.
Gemäss VBS hat die Schweiz ihre «neutralitätsrechtlichen Vorbehalte in einer Zusatzerklärung festgehalten, um beispielsweise jegliche Teilnahme oder Mitwirkung an internationalen militärischen Konflikten auszuschliessen». Das Verteidigungsdepartement wollte der WOZ die erwähnte Zusatzerklärung bis Redaktionsschluss nicht zustellen. «Ich finde das aktionistische Vorgehen von Bundesrätin Amherd fragwürdig», sagt Gada. Es sei nicht das erste Mal, dass die Armeeministerin sich um demokratische Prozesse und wichtige politische Debatten foutiere.
Gada verweist auf das wichtigste Rüstungsgeschäft der jüngeren Vergangenheit: den Kauf von 36 US-amerikanischen F-35-Kampfjets. Im letzten September unterzeichnete die Beschaffungsbehörde Armasuisse auf Geheiss von Amherd den F-35-Kaufvertrag, obschon die «Stop F-35»-Initiative die nötigen Unterschriften für eine Volksinitiative zusammengebracht hatte. Auch wenn es keine rechtliche Verpflichtung gibt, eine Initiative abzuwarten – der Stimmbevölkerung wird die Möglichkeit genommen, ihren Willen kundzutun.
Ausschluss der GSoA
An einer öffentlichen politischen Debatte scheint Amherd auch im Fall des ESSI-Beitritts wenig Interesse zu haben. Über ihr Vorhaben, eine Absichtserklärung zu unterzeichnen, hätten die Parlamentarier:innen aus den Medien erfahren, sagt Marionna Schlatter, immerhin Mitglied der Sicherheitspolitischen Kommission. Bis heute kenne sie den Inhalt des unterzeichneten Dokuments nicht. Das VBS betont gegenüber der WOZ, es handle sich bloss um eine Absichtserklärung ohne rechtlich bindende Wirkung. Typisch für Amherd, findet Schlatter. «Sie bringt die Geschäfte auf die Spur, bevor sich das Parlament überhaupt dazu äussern kann.» Dass die Erklärung nicht rechtlich bindend ist, mag stimmen. Trotzdem erschwert sie es, eine Gegenposition durchzusetzen. «Ist eine Abmachung mit ausländischen Regierungsvertreter:innen erst einmal getroffen, droht immer ein Gesichtsverlust, sollte sie wieder platzen.»
Viola Amherd ist eine, die sich durchsetzt. Nicht nur gelang es ihr im letzten Jahr, das Parlament von einer markanten Erhöhung des Armeebudgets zu überzeugen. Im Bundesrat scheint sich die Mitte-Politikerin als Mehrheitsmacherin in einer Machtposition zu befinden. Sie nutzt sie, um ihr Departement aufzuwerten. Auf Amherds Wunsch hin fasste der Bundesrat kürzlich den Beschluss, dem VBS neu ein Staatssekretariat für Sicherheit zu unterstellen. Ausserdem wird nächstes Jahr das bislang im Finanzdepartement angesiedelte Zentrum für Cybersicherheit ins VBS überführt und in ein vollwertiges Bundesamt umgewandelt.
Amherd krempelt nicht nur das Departement um, sie sucht auch die Nähe zu ihren internationalen Partnern. Und vollzieht damit einen Paradigmenwechsel im VBS.
Ein Beispiel dafür ist die sogenannte Studienkommission Sicherheitspolitik, die sie kürzlich ins Leben rief. Die Kommission soll einen Bericht verantworten, der Ideen für die künftige Ausrichtung der Schweizer Sicherheitspolitik liefert. Sechs der zwanzig Mitglieder stellen die Parlamentsfraktionen, zu ihnen zählt auch Marionna Schlatter. Die übrigen vierzehn Mitglieder hat Amherd selbst ernannt: An Bord sind mehrere Professor:innen, Bundesverwaltungsexpert:innen sowie Mitglieder von Economiesuisse oder vom Thinktank Foraus. Die GSoA als wichtigste zivilgesellschaftliche Organisation im Sicherheitsbereich ist hingegen nicht vertreten.
Grundsätzlich begrüsse sie die vorangetriebene internationale Vernetzung des VBS, sagt Schlatter. «Die Erzählung, wonach sich die kleine Schweiz eigenständig verteidigen könne, war schon immer eine grosse Lüge.» Auch vom Vorwurf, die Schweiz nähere sich unter Amherd neuerdings der Nato an, hält sie wenig: «Tatsächlich sind wir schon lange weitgehend Nato-kompatibel. Bis jetzt hat man das einfach kaum thematisiert.»
Überall Amherd, nirgendwo Cassis
Bisweilen wirkt es aber fast so, als würde das VBS unter Amherd mehr Aussenpolitik betreiben als das Aussendepartement (EDA): Amherd auf dem Times Square in New York, Amherd im Vatikan beim Papst, zu Besuch im Kosovo oder beim Austausch mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Immer freundschaftlich. «Ich habe den Eindruck», sagt Schlatter, «dass sie auf militärischer Ebene die Anspannung im Verhältnis zwischen der Schweiz und ihren Partnern zu kompensieren versucht.» Das sei «hochproblematisch»: «Es kann ja nicht sein, dass wir unsere Beziehungen über militärische Kooperation zu klären versuchen.»
Verantwortung dafür trägt freilich nicht nur die strahlende Mitte-Bundesrätin, sondern auch ihr blasser Kollege: Ignazio Cassis tritt international kaum in Erscheinung. «Das EDA müsste sich klar stärker in Sicherheitsfragen einbringen, insbesondere hinsichtlich Neutralitätspolitik und Friedensförderung», sagt dazu der GLP-Sicherheitspolitiker François Pointet. «Dass es sich so unauffällig verhält, deutet womöglich auf die Schwäche des zuständigen Bundesrats im Gremium hin.»
Dabei wäre das Aussendepartement derzeit gefordert. Gegenüber der WOZ hat das EDA angekündigt, bald den vom Parlament längst geforderten Entscheid zum Atomwaffenverbotsvertrag zu fällen. Spricht sich der Bund dafür aus, gehört die Schweiz zu einer globalen Abrüstungsallianz, die entschieden für eine atomwaffenfreie Welt kämpft. Eine Ablehnung hingegen wäre ein Zugeständnis zur Doktrin der nuklearen Abschreckung.
Freundschaft ist erfreulich. Klare Bekenntnisse und Verträge sind letztlich aber doch wichtiger.