Was macht die Schweiz?: Das Kreuz mit der Neutralität

Nr. 10 –

Der Schweiz fehlt in der Sicherheitspolitik ein Plan. Das hat auch viel mit einem schwammigen Begriff zu tun, der eine stärkere internationale Kooperation verhindert.

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Demonstrativ stellten sich Europas politische Führungsfiguren letzten Freitag hinter Wolodimir Selenski, der im Weissen Haus soeben vor den Augen der Weltöffentlichkeit erniedrigt worden war. «Liebe ukrainische Freunde, ihr seid nicht allein», schrieb Polens Premier Donald Tusk in den sozialen Medien. «Auf Deutschland – und auf Europa – kann sich die Ukraine verlassen», befand der deutsche Nochkanzler Olaf Scholz. Und auch die EU-Aussenbeauftragte Kaja Kallas wählte grosse Worte (vgl. «In den transatlantischen Trümmern»).

Während man in Warschau, Berlin und Brüssel die geopolitische Zäsur der Ereignisse rasch begriffen hatte, blieb es in Bern auffallend still. Erst am nächsten Morgen meldete sich die Bundespräsidentin zu Wort: Die Schweiz setze sich weiterhin für einen «gerechten und dauerhaften Frieden» ein, liess Karin Keller-Sutter die Welt dann doch noch wissen.

Nationaler Kitt

Zaudern und durchwursteln: So könnte man die bundesrätliche Sicherheitspolitik seit dem Beginn der russischen Vollinvasion in die Ukraine zusammenfassen. Ein aussenpolitischer Plan war ebenso wenig erkennbar wie eine sicherheitspolitische Strategie. Ungeklärt auch die Frage, gegen welche Bedrohungen sich die Schweizer Armee überhaupt aufstellen soll. Stattdessen darf Nocharmeechef Thomas Süssli seine Vision von einem Militär vorantreiben, das nicht nur in allen Bereichen hochgerüstet ist, sondern sogar im Weltall aktiv sein soll. Und so blähen Bundesrat wie Parlament das Budget immer weiter auf, obschon das Verteidigungsdepartement mit seinen Beschaffungen schon jetzt überfordert ist.

Will man verstehen, warum sich die Schweiz bei der Neujustierung ihrer Aussenpolitik so schwertut, muss man zu jener Doktrin zurück, die deren Kern bildet: die Neutralität.

Anruf bei Sacha Zala, Direktor der Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz. Anders als in anderen Ländern sei die Neutralität hierzulande «unendlich positiv konnotiert» und werde kaum infrage gestellt – was auch daran liege, dass die Schweiz in zwei Weltkriegen unversehrt geblieben sei. Als Gegenbeispiel nennt der Historiker Belgien, das – wie die meisten kleineren Staaten im 19. Jahrhundert – ebenfalls lange Zeit neutral war. Nachdem es in beiden Weltkriegen angegriffen worden war, gehörte das Land zu den Gründungsmitgliedern der Nato.

In der hiesigen Debatte herrsche eine «unglaubliche Konfusion», konstatiert Zala. Die Haager Abkommen von 1907 hätten Neutralität als rein militärisches Konzept festgeschrieben: Neutral ist ein Land demnach, wenn es keinen Krieg führt, sein Territorium nicht für Kriegsmächte zur Verfügung stellt und keine Waffen an bloss eine Kriegspartei liefert. Erst nach dem Ersten Weltkrieg habe sich die Schweiz die heutige Neutralitätsdoktrin helvetischer Machart verpasst.

1920 trat die Eidgenossenschaft per Volksabstimmung dem Völkerbund bei. Unter Androhung einer Abstimmungsniederlage rangen die Schweizer Diplomaten den Siegermächten erfolgreich die Ausnahme ab, künftig bloss wirtschaftliche, nicht aber militärische Sanktionen übernehmen zu müssen – der Sonderfall Schweiz war geboren. Zala sagt, die Neutralität habe aber vor allem nach innen gewirkt: als «nationaler Kitt eines heterogenen, vielsprachigen Landes», aber auch als «Instrument, um die innenpolitischen Konflikte über die Ausrichtung der Aussenpolitik zu neutralisieren». Ihr eigentlicher Kern – die sicherheitspolitische Dimension – gerate damit allerdings aus dem Blick.

«Weil die Neutralität nur eine sehr fragile Sicherheit bietet, hat sich die Schweiz das Neutralitätsrecht konstruiert, das einen vermeintlich zu bestimmten Handlungen zwingt oder eben nicht», meint Zala. Mit dieser «formalisierten Hyperverrechtlichung» habe man zu kaschieren versucht, dass es letztlich immer um politische Entscheide gehe.

Unterschiedliche Rollen

Während die neutralitätspolitische Diskussion in den vergangenen drei Jahren auf der Stelle trat, gab es immerhin mindestens zwei Versuche einer sicherheitspolitischen Grundsatzdebatte. Im Frühjahr 2022 kündigte Aussenminister Ignazio Cassis einen «Neutralitätsbericht» an – das letzte solche Papier war kurz nach Ende des Kalten Kriegs entstanden. Nur wenige Wochen vor Cassis’ Ankündigung hatte Russland die gesamte Ukraine angegriffen. Als die EU ein erstes Sanktionspaket beschloss, dauerte es fünf lange Tage, bis der Bundesrat nachzog. Für Cassis, der bei der ersten Medienkonferenz nach dem 24. Februar 2022 einen miserablen Auftritt hingelegt hatte, sollte der Neutralitätsbericht zum Befreiungsschlag werden.

Am Weltwirtschaftsforum im Mai 2022 sprach der Freisinnige dann erstmals von der «kooperativen Neutralität» – offenbar ohne Einbezug des restlichen Bundesrats, der den Bericht dann auch zurückwies. Nicht zum ersten und vor allem nicht zum letzten Mal erwies sich die Kollegialbehörde als zerstrittener Haufen – und Cassis als lausiger Stratege. Sein Vorstoss wurde zum Rohrkrepierer.

Den nächsten Versuch einer Grundsatzdebatte lancierte im Sommer 2023 Viola Amherd: Unter der Leitung des ehemaligen Arbeitgeberpräsidenten Valentin Vogt schusterte die nun abtretende Mitte-Verteidigungsministerin eine «Studienkommission» zusammen. Diese tagte ein Jahr lang unter Ausschluss der Öffentlichkeit – nur um dann einen Bericht zu präsentieren, der wirkungslos verpuffte. Kurz darauf erschien nämlich der Sparbericht von Finanzministerin Karin Keller-Sutter – und stahl Amherds Ideensammlung die Show.

War das bloss schlecht abgesprochen oder bereits Ausdruck eines Konflikts zwischen den beiden Bundesrätinnen, von dem die Medien derzeit berichten? Eine sicherheitspolitische Diskussion fand jedenfalls nicht statt. (Dass es auch anders geht, zeigt Österreich, wo das Verteidigungsministerium kürzlich ein umfassendes «Risikobild» vorgelegt und den Dialog mit der Bevölkerung gesucht hat.) Für Ende Jahr ist nun ein weiterer Anlauf geplant. Dann wird das neugegründete Staatssekretariat für Sicherheitspolitik seinen Strategiebericht publizieren.

Laurent Goetschel sass als einer der Expert:innen in Amherds Kommission, zu deren Kernforderungen auch eine «Verteidigungskooperation» mit Nato und EU gehörte: «Eine politische Debatte über eine engere sicherheitspolitische Zusammenarbeit auf europäischer Ebene ist heute nochmals dringlicher als im letzten Sommer», sagt der Leiter der Basler Stiftung Swisspeace. Dabei müssten nicht alle Länder die gleiche Rolle einnehmen. «Ein bestimmtes Land produziert gewisse Waffensysteme, ein anderes trägt eher ökonomisch etwas bei, ein drittes ist für die Friedensförderung verantwortlich», so der Politologe. «Auch die Schweiz darf nicht auf die Idee kommen, sie sei ein über allem schwebender Planet Mars.»

Gemeinsame Rüstungspolitik

Wie aber könnte der Schweizer Beitrag aussehen? Immerhin etwas Klarheit kommt derzeit aus dem Parlament. Am Erscheinungstag dieser WOZ debattiert der Nationalrat über die Erklärung «für eine eigenständige europäische Sicherheitspolitik und eine aktive Rolle der Schweiz». Darin fordert die Sicherheitskommission vom Bundesrat intensivere Bemühungen zur Sicherung der Stabilität Europas. Vor allem in der Cybersicherheit, bei Katastrophenschutz und Friedensförderung soll die Kooperation mit Partnerländern und internationalen Organisationen intensiviert werden. Eine engere Anbindung an die EU solle ebenfalls geprüft werden, etwa im Rahmen der «Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit» von EU-Staaten im Sicherheitsbereich (Pesco). Derzeit nimmt die Schweiz an zwei Pesco-Projekten teil – einem zur «militärischen Mobilität», einem anderen zur Cyberverteidigung.

In der Kommission hat eine knappe Mehrheit für den von SP-Nationalrat Fabian Molina eingebrachten Antrag gestimmt. Die SVP votierte geschlossen, die FDP mehrheitlich dagegen, während SP, Grüne und GLP dafür waren. Am Ende dürfte es einmal mehr auf die Mitte-Partei ankommen. Auch wenn die Erklärung im Plenum bloss symbolischen Charakter hat, geht es auch um eine aussenpolitische Signalwirkung: Begreift sich die Schweiz als Bestandteil eines Europas, das sich nach dem Zusammenbruch der Nachkriegsordnung sicherheitspolitisch radikal neu aufstellen muss? Oder isoliert sie sich weiter?

«Nimmt man Donald Trumps Aussagen ernst – und das sollten wir –, haben wir in Washington und Moskau zwei imperiale Systeme, die jede Form europäischer Integration rückgängig machen wollen», sagt SP-Nationalrat Jon Pult, der die Schweizerische Gesellschaft für Aussenpolitik präsidiert. Die Nato sei «politisch tot» – was kurzfristig dramatisch sei, für progressive Kräfte aber potenziell auch eine Chance: «Erstmals besteht für Europa die Möglichkeit, sich von den USA unabhängig zu machen und als eigenständiger Akteur zu behaupten.»

Für die Schweiz bedeutet das aus Pults Sicht eine engere Kooperation mit Europa, auch in der Sicherheitspolitik, etwa die Stärkung einer eigenen europäischen Rüstungsindustrie: statt dem derzeit gängigen Kauf von US-Rüstungsgütern eine gemeinsame Politik mit EU-Staaten, Grossbritannien und Norwegen. Vor diesem Hintergrund kritisiert Pult den Entscheid für den Kauf von F-35-Kampfjets aus den USA, den der Bundesrat 2021 fällte.

Dem SPler schwebt eine Art europäische Verteidigungsgemeinschaft 2.0 vor. Das Projekt, das eine gemeinsame Armee vorsah, war in den fünfziger Jahren im französischen Parlament gescheitert: «Die Alternative zu einer europäischen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik ist eine opportunistische Politik, wie sie das rechtsbürgerliche Lager unterstützt.»

Inbegriff dieses Opportunismus wiederum ist die «Neutralitätsinitiative» der SVP, die voraussichtlich 2026 zur Abstimmung kommt. Bei Annahme soll die «immerwährende bewaffnete Neutralität» in der Verfassung verankert und Sanktionen sollen verboten werden, sofern diese nicht von der Uno beschlossen werden. Dies würde den Handlungsspielraum übermässig einschränken, wie Laurent Goetschel es formuliert. Verboten wäre damit inskünftig auch die Übernahme von EU-Sanktionen, wie das derzeit im Falle des Kriegs gegen die Ukraine geschieht.

Die anderen Parteien lehnen das Ansinnen ab: Von einer «Pro-Putin-Initiative», die die «bewährte Schweizer Neutralität» zerstöre, spricht etwa FDP-Präsident Thierry Burkart. Klar ist indes, dass der destruktive Abstimmungskampf der SVP konstruktive Ideen blockieren wird. Bis dahin sei jede Bewegung hin zu einer aktiven Aussen- und Sicherheitspolitik verstellt, sagt Goetschel: «Wir stehen auf der Bremse, statt Fahrt aufzunehmen.»