«Anarchy 2023»: Im Zweifel für die Praxis

Nr. 31 –

In Saint-Imier wurde der 150. Geburtstag der Antiautoritären Internationale gefeiert. Vor Ort zeigte sich die globale Kraft des Anarchismus – zumindest fallweise.

Buchmesse im Eishockeystadion von Saint-Imier.
«Alle anständig und sauber»: Buchmesse im Eishockeystadion von Saint-Imier.

Der schmucklose Raum im leer stehenden Altersheim von Saint-Imier ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Von draussen ertönt das energische Trommeln der Rhythms of Resistance, einer Percussion-Band, die jeweils auf Demos für die musikalische Begleitung sorgt. Drinnen aber ist die Stimmung andächtig, die rund fünfzig Besucher:innen haben sich zu einer Schweigeminute erhoben: «Für Dima und alle anderen, die in der Ukraine gestorben sind.»

Als sich die Leute wieder gesetzt haben, lassen Weggefährt:innen das eindrückliche Leben des Moskauers Dmitri Petrow Revue passieren. Auch die extra für den Anlass angereisten Eltern erzählen von ihm. Petrow kämpfte aufseiten der Ukraine gegen die russische Invasion, im April wurde er in der Schlacht um die Stadt Bachmut getötet. Der Historiker hatte in Russland die militante Kampforganisation der Anarchokommunist:innen Boak mitbegründet, beteiligte sich später an der Revolution auf dem Maidan, nahm in Minsk am Aufstand gegen die belarusische Diktatur teil, lebte mehrere Monate in Rojava und schrieb zwei Bücher darüber. «Bevor er für eine Utopie einstand, wollte er deren gute und schlechte Seiten selbst sehen», erzählt ein Freund.

Dmitri Petrows Geschichte steht beispielhaft für einen Anarchismus, der sich internationalistisch versteht. Der also ganz nach der alten Losung weder Gott noch Meister kennt – und schon gar nicht ein sogenanntes Vaterland. Doch wie global denkt und agiert die Bewegung heute als Ganzes?

«Ein bisschen Träumer halt»

Die «Anarchy 2023» ist ein guter Ort, um diesen Fragen nachzugehen – hier im Berner Jura hat rund 150 Jahre zuvor eine Gruppe um Michail Bakunin, Errico Malatesta und den Schweizer Uhrmacher Adhémar Schwitzguébel die Antiautoritäre Internationale ausgerufen. Der Kongress gilt bis heute als Geburtsstunde des Anarchismus.

Geschätzte 4000 Personen, die sich als Anarchist:innen verstehen oder einfach der ausserparlamentarischen Linken angehören, sind Mitte Juli zu einer Neuauflage des Kongresses nach Saint-Imier gereist. Wegen Corona findet die Jubiläumsveranstaltung um ein Jahr verschoben statt. Die Stadt hat für das fünftägige Treffen viele ihrer öffentlichen Gebäude zur Verfügung gestellt: Im Eishockeystadion findet die anarchistische Buchmesse statt, in der Salle de spectacle gibt es Konzerte von Bands wie den Kumbia Queers und im ehemaligen Altersheim neben der Gedenkveranstaltung für Petrow noch viele weitere Workshops. Insgesamt sind es weit über 300.

Auf der leicht abschüssigen Wiese, auf der die Teilnehmer:innen ihre Zelte aufgeschlagen haben, wehen Transparente verschiedener Gruppen im Wind, in den Kochtöpfen mehrerer Grossküchen brutzeln vegane Gerichte. Immer wieder blitzt in den Strassen von Saint-Imier in diesen Tagen der antiautoritäre Geist auf: In einem Hauseingang proben zwei Musiker:innen ihre Version eines Ton-Steine-Scherben-Songs mit Banjo und Akkordeon: «Das ist unser Haus, wir wollen hier nicht raus», hallt die Hausbesetzungshymne durch die Gasse.

An einem Zebrastreifen muss ein Kastenwagen minutenlang ausharren, weil ein junger Mann sich einen Spass draus macht, die Polizei mit einem sphärisch anmutenden Tanz aufzuhalten. Die Gäste in der «Brasserie de la Place» schauen amüsiert zu.

«Anständig und sauber sind sie alle», lobt die Verkäuferin in der örtlichen Bäckerei die Besucher:innen. «Aber ein bisschen Träumer halt.» Ihre Gelassenheit über den Einfall der Anarchist:innen passt zur Stimmung im Ort: Ein wenig stolz ist man schon auf die Weltgeschichte, die sich hier einst ereignet hat. «Der Kongress verschafft diesen geschichtsträchtigen Ereignissen Aufmerksamkeit. Das ist positiv für Saint-Imier», sagt der freisinnige Gemeindepräsident in die Kamera des Schweizer Fernsehens. Überhaupt findet die Neuauflage des Treffens im medialen Sommerloch viel wohlwollende Aufmerksamkeit – auch wenn viele Berichte bei der Beschreibung der Anarchist:innen als exotisches Völklein stehen bleiben.

Warum der Anarchismus gerade in den früh industrialisierten Tälern des Juragebirges auf Anklang stiess, erklärt am Kongress der Historiker Florian Eitel an einem Vortrag im Theatersaal vor Hunderten von Zuhörer:innen. Eitel spricht von einer «Parallelgeschichte» der wirtschaftlichen Globalisierung und der Verbreitung anarchistischer Ideen: Neue Technologien wie die Eisenbahn oder der Telegraf veränderten das Raum- und Zeitgefühl – und schufen so die Vorstellung von internationaler Solidarität.

Wo bleibt die Uhr?

Einen der wohl längsten Anreisewege an die «Anarchy 2023» hatte Adriano, der gemeinsam mit seinen Kollegen Timo und Julio die inoffizielle brasilianische Delegation bildet. Ihren Flug haben Genoss:innen aus Europa mitfinanziert. Die Bedeutung von Saint-Imier sei weltweit bekannt, erzählt Adriano in der Festwirtschaft vor der Eishalle. Er kennt sie aus seiner Lesegruppe zur Geschichte der Arbeiter:innenbewegung. «Natürlich haben wir schon damit gerechnet, dass wir als Begrüssungsgeschenk eine Schweizer Uhr erhalten», wirft Timo ein. Die anderen beiden lachen.

In Saint-Imier wollen die drei an der Buchmesse ihre anarchistische Bibliothek um fehlende Werke ergänzen – und sich mit anderen Gruppen vernetzen, besonders jenen, die ebenfalls aus Lateinamerika angereist sind. «Zwar stellen sich in Brasilien andere Fragen als in Europa, besonders die nach einer gerechten Verteilung des Landes», sagt Adriano. Zudem dürfe man nicht vergessen, dass Brasilien das letzte Land in Lateinamerika gewesen sei, das die Sklaverei abgeschafft habe. «Bei unseren Auseinandersetzungen geht es deshalb bis heute weniger um klassische Arbeitskämpfe als um die soziale Selbstverteidigung in einer rassistischen Gesellschaft.»

Um Fragen also, auf die man in den historischen Werken anarchistischer Autor:innen aus Europa kaum direkte Antworten findet. «Und doch sind die Methoden des Anarchismus sehr anschlussfähig für die Arbeit in unseren Communitys», meint Julio. «Wir wollen Räume schaffen, die nicht hierarchisch geprägt und nicht gewalttätig sind», sagt Timo. In Saint-Imier wollen sie praktisches Wissen sammeln. «Saber fazer» lautet die portugiesische Bezeichnung dafür: wissen, um zu handeln.

Neben dem Kongress-Esperanto Englisch ist in diesen Tagen in Saint-Imier ein wahres Sprachengewirr zu hören: Portugiesisch, Italienisch, Russisch und natürlich auch viel Deutsch. Heike und Tom sind wie viele andere aus Berlin gekommen. Gleich zwei Solibusse seien aus der deutschen Hauptstadt losgefahren. Die beiden sind seit vielen Jahren in der Lateinamerikasolidarität aktiv und freuen sich über Begegnungen mit Gleichgesinnten aus dem Globalen Süden.

«Ein Treffen wie dieses holt die Utopie des Anarchismus aus dem Elfenbeinturm heraus. In der globalen Verbindung erhalten die Ideen eine reale Bedeutung», sagt Heike. In Gesprächen mit Gruppen aus Ländern, die von der Erderhitzung bereits stärker betroffen seien, erfahre man beispielsweise viel über den konkreten Kampf um Auswege aus der Klimakatastrophe. «Gleichzeitig wird man sich der eigenen Privilegien hier in Europa und der Notwendigkeit der Solidarität bewusst.»

Weil das Organisationsteam bloss aus einigen Freiwilligen besteht und dringend zusätzliche Hände sucht, um das Treffen reibungslos am Laufen zu halten, helfen die beiden auch in der Küche mit. So haben sie kiloweise Kohlrabi geschält, die vor zwei Jahren auf einem Bauernhof in der Nähe zur Verköstigung am Kongress gepflanzt wurden. «In seiner Selbstorganisation löst das Treffen ein, was es auch politisch fordert», sagt Tom. Etwas weiss und elitär geprägt sei die Zusammenkunft allerdings schon, befinden die beiden selbstkritisch.

Jodeln gegen Rechts

Wie arrogant die westliche Weltsicht auch unter Anarchist:innen sein kann, müssen insbesondere die Teilnehmer:innen aus Russland, Belarus und der Ukraine erfahren. An praktisch jedem Workshop zum russischen Angriffskrieg kommt es zu Belehrungen über den wahren Antimilitarismus. So lässt es sich eine Teilnehmerin aus Deutschland auch an einem Podium zu anarchistischen Positionen zum Krieg nicht nehmen, als Erstes lautstark ein Plakat mit dem Slogan «Gegen alle Kriege» anzubringen. Anarchist:innen in der Ukraine sollten nicht zur Waffe greifen, findet sie.

«Wenn dein Land von einer imperialen Macht angegriffen wird, hast du nicht mehr die Zeit, auf die ideale soziale Revolution zu warten. Dann musst du dich verteidigen», meint eine Ukrainerin. «Westliche Kamerad:innen sehen uns gerne als Opfer. Aber wenn wir unsere Perspektive teilen wollen, werden wir herabgewürdigt, dann heisst es wieder, wir hätten dieses oder jenes nicht gelesen», beklagt sich eine Anarchistin aus Belarus. «Unsere Kämpfe sind euch nicht exotisch genug wie jene der Kurdinnen oder Zapatisten – auf der gleichen Ebene mit euch befinden wir uns aber auch nicht.»

So ernsthaft Diskussionen wie diese in Saint-Imier geführt werden, so unterhaltsam zeigt sich der Anarchismus auch. Das hat wohl auch damit zu tun, dass viele in der Bewegung im Zweifel die Praxis der Theorie vorziehen, ganz im Sinn des portugiesischen «Saber fazer» eben. So kann man am Kongress lernen, wie man mit Aludosen Radierungen druckt. Welche Knoten man beim Klettern während politischen Aktionen brauchen kann. Und es gibt sogar einen Workshop zum anarchistischen Jodeln.

Das sei sehr nützlich, um an rechtsextremen Demos Faschist:innen aus dem Takt zu bringen, erklärt das Berliner Duo Esels Alptraum, das den Workshop leitet. Die beiden Frauen tragen Perücken, Dirndl und einen voll bestückten Patronengurt. Zur Eröffnung des Kurses intonieren sie: «Liebe, Freiheit, Anarchie!» Der Rest ist Gejodel.

Die WOZ widmete der Geschichte und Gegenwart des Anarchismus in der Ausgabe 28/23 einen Schwerpunkt. Alle Berichte finden Sie auf hier.