Anarchistinnenkongress: Reine Anarchie
Vor der Industrialisierungswelle im 19. Jahrhundert praktizierten in der Gegend um Saint-Imier viele unabhängige UhrmacherInnen ihr Handwerk. Den Ideen Michail Bakunins zugeneigt, organisierten sie sich in der Juraföderation und beherbergten 1872 den Kongress von Saint-Imier, aus dem die Antiautoritäre Internationale hervorging. 140 Jahre später findet hier wieder ein internationales anarchistisches Treffen statt.
Die acht Veranstaltungsorte sind über das Städtchen verteilt, auf dem Programm stehen Konferenzen, Workshops, Filmvorführungen, Konzerte und eine Büchermesse.
Während der ersten Konferenz ist der grösste Saal des Treffens, der «Salle de spectacle», voll besetzt. «Anarchismus muss nicht nach grossen Köpfen suchen, an unserem Kampf können alle teilnehmen!», ruft ein italienischer Anarchist in die Menge. An der Schlussveranstaltung wird ein Franzose deklamieren: «Den Staat aus unseren Köpfen ziehen, aus dem Herzen die Hierarchie, um zu machen – die Anarchie!»
Anarchistische Flaschenpost
An vielen Veranstaltungen geht es darum, Erfahrungen auszutauschen, etwas über die Aktivitäten von AnarchistInnen in anderen Ländern zu erfahren. Maribel Anna etwa stellt ein Schulprojekt in Buenos Aires vor: «Die Schule befindet sich in einem der ärmsten Viertel der Stadt. Wir bieten kostenlosen Unterricht an, alle Entscheidungen werden in Vollversammlungen von SchülerInnen und Lehrpersonen getroffen. Im Lehrkörper gibt es ebenfalls keine Hierarchien, und niemand bekommt Lohn.»
Die Wirtschaftskrise ist am Kongress ebenso ein Thema wie die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Anarchismus und sozialen Bewegungen wie Occupy und den «Empörten». Erstere wird grösstenteils als Chance wahrgenommen, die spontanen Erhebungen hingegen mit einiger Ernüchterung. «Es ist schon frustrierend: Wir arbeiten jahrelang, und dann bricht ohne unser Zutun plötzlich eine Revolte aus, gehen Tausende Menschen auf die Strasse», sagt die Französin Annick Stevens. «Aber vielleicht können wir doch etwas einbringen, erklären, dass das Problem im System liegt und dass dieses geändert werden kann. Natürlich wissen wir nie, ob diese Flaschenpost, die wir ins Meer werfen, wirklich ankommt.»
An einer weiteren Konferenz kommt auch die Frage der geografischen Gebiete zur Sprache. Wo kann der Anarchismus wieder aufleben? «In Lateinamerika zum Beispiel sind die anarchistischen Bewegungen wieder am Erstarken», freut sich der Redner René Berthier. Tatsächlich haben viele LateinamerikanerInnen die Reise nach Saint-Imier angetreten, darunter ein junger Mann aus Chile.
Auch der Japaner Takurou Higuchi schätzt den Austausch mit älteren AktivistInnen: «In den Zwanzigern gab es in Japan eine starke anarchistische Bewegung. Ich kenne einige der Älteren inzwischen ganz gut. In Tokio gibt es ungefähr 400 junge Leute, die dem Anarchismus nahestehen. Wir beteiligen uns vor allem an der Organisation der Anti-AKW-Demonstrationen.»
Gelassenheit statt Ordnungsdienst
Die Frage der Gewalt wird offiziell kaum thematisiert, nur eine einzige Diskussion ist zum Thema geplant. Wegen des grossen Andrangs verschiebt sich die Diskussionsrunde vom Saal auf einen grossen Parkplatz. Viele plädieren dafür, dass beide Methoden nebeneinander existieren können: die gewaltlose, aber auch der Einsatz von Gewalt. An vielen anderen Veranstaltungen distanzieren sich RednerInnen hingegen klar von Gewalt.
Der Anarchismus, der sich in Saint-Imier während fünf Tagen der Öffentlichkeit zeigte, war von gegenseitigem Respekt geprägt. So gab es auch keinen Ordnungsdienst, sondern bloss Freiwillige, die sich um «sérénité», um Gelassenheit, kümmerten. Auch wenn sich nicht alle der über 3000 TeilnehmerInnen in dieser Lesart des Anarchismus wiedererkannten, so vermittelten doch die meisten ein Bild, das zu überraschen vermochte: «Anarchistisches Treffen läuft gar nicht anarchistisch ab», war in einem Lokalblatt zu lesen. Und der Bürgermeister von Saint-Imier soll das Organisationskomitee schon angefragt haben, ob sie nächstes Jahr wieder ein Treffen planen wollten – kein Anlass habe die Strassen des Städtchens je so sauber zurückgelassen.