Rehabilitation in der Ukraine: Sie kämpfen für ihr künftiges Leben
Verletzte müssen lernen, mit Prothesen zu leben, und zahlreiche Soldat:innen werden zur Erholung von der Front in Sanatorien geschickt. Nach dem Krieg werden noch viel mehr von ihnen Hilfe benötigen, sagen die Ärzte.
Helden werden sie genannt, die Soldat:innen, die ihr Land seit mehr als neunzehn Monaten gegen die russischen Invasoren verteidigen. Banner an den Strassen zeigen sie in Uniform, bewaffnet, stark. «Wir danken den Verteidigern» steht darunter geschrieben. Eines dieser Plakate hängt auch neben der Landstrasse, die zu einem Sanatorium in der Region Charkiw führt. Hier wurden bis zum 24. Februar 2022 vor allem Zivilist:innen nach Schlaganfällen oder Herzinfarkten behandelt und noch früher die Liquidator:innen von Tschernobyl.
Zuletzt kamen immer öfter Soldat:innen wie Pawlo Samokisch. Der 53-Jährige mit dichtem Schnurrbart und gestreiftem Unterhemd geht langsam über einen gepflasterten Weg durch die Parkanlage der Einrichtung. Er steuert auf die Sitzbänke zu, die unter Buchen im Schatten stehen. An manche wurden Plaketten mit Zitaten von historischen Persönlichkeiten genagelt. «Eine Nation, die nicht bereit ist, ihre eigene Armee zu ernähren, wird bald gezwungen sein, die Armee einer anderen Nation zu ernähren – Napoleon Bonaparte» steht da etwa.
Samokisch setzt sich, streckt die Beine. Seine Unterschenkel sind in Bandagen gewickelt, die Arme übersät mit Narben. Die feinen, die man nur bei genauerem Hinschauen bemerkt, stammen aus den Jahren 2014 und 2015, als er zum ersten Mal an der Front im Donbas kämpfte. Die rötlichen, geschwollenen stammen vom April dieses Jahres, als er verwundet wurde. In Bachmut war das. «Wir haben einfach nur standgehalten», erzählt er. Daran zu denken, fällt ihm nicht leicht. Viele seiner Kameraden seien gefallen. Samokisch erinnert sich an eine Szene in einem Spital, in das er nach seiner Verletzung gebracht wurde. «Ich war zwanzig Minuten im Wartesaal. In diesen zwanzig Minuten sind fünf Krankenwagen gekommen und haben Dutzende Jungs abgeladen. Ohne Arme, ohne Beine, jung. Sie haben mir gesagt, dass sie es noch nicht mal geschafft hätten, ein Mädchen zu küssen.»
Alltägliches ist gewöhnungsbedürftig
Wie viele Soldat:innen bisher verwundet wurden, wird von ukrainischer Seite nicht offiziell bekannt gegeben. Allein in diesem Sanatorium bei Charkiw waren bisher mehr als 4000 von ihnen zur Rehabilitation. Manche kommen wie Pawlo Samokisch, um sich von Verletzungen zu erholen. Andere wurden zwar nicht verletzt, aber für eine kurze Erholungspause zwei Wochen lang von der Front freigestellt. Unter ihnen ist Nikolai, der seinen Nachnamen nicht veröffentlicht wissen will, weil er nach den vierzehn Tagen wieder zurück in den Kampf muss. Gefragt, an was er sich hier am meisten gewöhnen musste, nennt der 39-Jährige gewöhnliche, alltägliche Dinge: «Hier schlafen wir in einem Bett und nicht mehr auf dem Boden. Wir essen verschiedene Speisen, wir können duschen und uns waschen. Es gibt einen Fernseher.»
Nikolai sitzt an diesem Tag Ende Juli mit einigen anderen Kameraden aus seiner Einheit unweit eines Badesees, der sich ebenfalls in der Anlage des Sanatoriums befindet. Von hier aus beobachten die Männer das bunte Treiben: Senioren in eleganten Hemden und Frauen in Sommerkleidern flanieren in der Sonne. Das Kreischen der Kinder, wenn sie ins Wasser springen, und das Schnalzen von Flipflops auf dem Weg in die Strandbar verleihen dem Ort einen Hauch von Urlaubsflair. «Deshalb das Bier», sagt Nikolai und deutet auf das Getränk, das vor ihm steht. Für ihn ist der Aufenthalt genau das: Urlaub – der erste seit Kriegsbeginn. «Wir wollen nach Hause kommen zur Familie, zur Frau, zu den Kindern. Wir wollen uns zu Hause erholen. Am besten für ein, zwei Monate», sagt er. «Aber das geht nicht.»
Plötzlich «Freizeit»
Nikolai wurde gleich zu Kriegsbeginn einberufen und kämpft bereits seit dem 3. März 2022 an der Front. Grösstenteils lebe er im Wald, erzählt er. Dort müsse er sich auf einen einzigen Gedanken konzentrieren: darauf, dass die Ukraine gewinnen werde. Er sei im Donbas stationiert, Genaueres darf er nicht verraten. Er erklärt, dass er sich bereits nach der ersten Woche im Sanatorium besser gefühlt habe, doch müde sei er immer noch. «Der Aufenthalt hier ist gut für uns, wir vergessen den Krieg und haben mal andere Gefühle», sagt er. Langsam könne er mit der Ruhe hier umgehen, die für ihn am Anfang noch etwas Bedrohliches gehabt habe.
Das Rehabilitationsprogramm, das Nikolai und Pawlo Samokisch durchlaufen, konzentriert sich vor allem auf die psychische Genesung von Kämpfer:innen, die wieder zurück an die Front gehen. Physiotherapie, Massagen und Gespräche mit Psycholog:innen strukturieren den Tag. Militärpsychologe Maxim Bayda hofft, dass es hier bald mehr als die derzeit hundert Plätze geben wird. «Wir haben in unserem Land etwa eine Million Menschen im Sicherheits- und Verteidigungssektor. Nach dem Ende dieses Krieges werden all diese Jungs und Mädchen psychologische Hilfe und eine psychologische Rehabilitation benötigen», sagt der 35-Jährige. Wie lange dies nötig sein werde, sei je nach Person unterschiedlich.
Bayda sitzt etwas abseits von Nikolai auf der Terrasse der Strandbar. Er zeigt mit dem Finger auf eine Böschung auf der anderen Seite des Seeufers. «In den ersten Tagen hier können viele nicht auf diese Büsche blicken, ohne zu denken, dass dort der Feind lauert», sagt er. An der Front schlafen die Soldat:innen manchmal nächtelang nicht oder nur wenige Stunden. Sie haben klare Aufgaben und sind in ständiger Alarmbereitschaft. «Und plötzlich sind sie hier und haben Freizeit», sagt der Psychologe. Viele, die zu ihm kämen, litten an Depressionen. «Sie begreifen oft erst hier den Verlust von Kameraden oder dass sie in Gefangenschaft waren. Manche leiden unter Schlaflosigkeit, erhöhtem Aggressionsniveau oder gesteigertem Gerechtigkeitsbedürfnis.»
Pawlo Samokisch, der Soldat, der in Bachmut verwundet wurde, sagt, er sei nicht gerne hier. Er fühle sich wie auf einer Zwischenstation. Denn die Kämpfe gingen weiter, während er auf Kur sei. Sobald es ihm besser geht, will er zurück an die Front gehen. Auf Krücken gestützt, durchquert er das spärlich beleuchtete Foyer des Sanatoriums. Er nimmt die Treppe in den ersten Stock, durch den sich ein langer Korridor zieht, der weiter hinten in die Speisehalle mündet. An den Wänden dort hängen einige Jagdtrophäen. «Ich komme gerne in die Kantine und beobachte die Leute hier», sagt er, «das ist immer noch besser, als im Zimmer zu sitzen oder den ganzen Tag zu schlafen.» Es wird Kotelett mit Reis serviert, dazu eine Gemüsesuppe und Kompott. Dann kramt er aus seiner Hosentasche ein Notizbuch mit karierten Seiten und sagt: «Das ist mein Talisman und mein wichtigster Besitz.»
Sorgfältig öffnet er das Buch, in dem er seitenweise Telefonnummern von Kameraden, Familienmitgliedern und Freund:innen aufgelistet hat, manche von ihnen sind durchgestrichen. Darauf folgen kurze Tagebucheinträge. «Am 14. April 2023, um 9.10 Uhr morgens, gab es einen Treffer», liest er vor. «Die Explosion wirft mich zurück, ich sehe nichts, mein Gesicht brennt. Dann schleppen mich die Jungs irgendwohin, binden meinen linken Arm und mein rechtes Bein ab, nehmen mir den Helm und die kugelsichere Weste ab. Nach anderthalb Stunden beginnen sie mit der Evakuierung auf Tragen. Sie schleppen mich über eine Treppe, schiessen zurück, der Kampf geht weiter. Sanitäter nehmen mich im Auto mit. Am 15. 4. bringen sie mich nach Cherson ins Spital. Von meiner Kleidung sind nur der Gürtel und die Mütze übrig geblieben, alles andere ging kaputt. Dann kommt meine Frau mit meinem Sohn und den Enkeln. Die Kinder sagen: Opa, mach die Augen auf.»
90 000 Prothesen benötigt
Pawlo Samokischs Beine mussten nach der Verletzung nicht amputiert werden. Viele andere hatten weniger Glück. Derzeit benötigten landesweit etwa 90 000 Menschen Prothesen, sagte der Bürgermeister der westukrainischen Stadt Lwiw vor kurzem im Gespräch mit einer österreichischen Delegation. Allein in Lwiw seien derzeit mehrere grosse Spitalprojekte geplant. Denn seit der russischen Invasion ist die Stadt nahe der polnischen Grenze nicht nur zu einem Zufluchtsort für Geflüchtete aus den hart umkämpften Regionen geworden, sondern auch zu einem Zentrum für Rehabilitation. Der Bedarf an Behandlungsplätzen sei enorm, sagt der Physiotherapeut Oleg Bilianski, der in Lwiw das Rehabilitationszentrum Unbroken leitet. Hier erhalten die Patient:innen passende und hochmoderne Prothesen und lernen, sich damit zu bewegen. Viele, die hier in Therapie sind, sagen, dass sie in Bachmut verwundet wurden.
Jede ukrainische Stadt brauche solch ein modernes Rehazentrum, sagt Bilianski. «Vor dem Krieg hatten wir viele Patienten mit Traumata, Knochenbrüchen, Schlaganfällen – all diese Menschen brauchten Rehabilitation. Seit Kriegsbeginn steigt die Zahl der Patienten jeden Tag an. Und nach dem Krieg wird es vielleicht genauso sein, weil wir Menschen haben werden, die eine Langzeitreha brauchen.» Laut Bilianski stehen derzeit mehr als hundert Namen auf der Warteliste. Er erwartet, dass die Anzahl an Patient:innen in den kommenden Monaten noch weiter steigen wird. Nicht nur, weil die Luftangriffe auf sämtliche Regionen unvermindert weitergehen. Sondern auch, weil die Ukraine mittlerweile als das verminteste Land der Welt gilt: Dreissig Prozent des Territoriums sind infolge des Krieges mit Sprengsätzen kontaminiert.
Gerade in den Oblasten im Osten und Süden, wo der Bedarf an Behandlungseinrichtungen am grössten ist, sind die Menschen der ständigen Gefahr von Luftangriffen ausgesetzt. Erst am 6. Oktober wurde das Zentrum der Millionenstadt Charkiw erneut von einem Raketenangriff getroffen. Hinzu komme eine weitere Herausforderung, sagt Bilianski, der auch an der Katholischen Universität in Lwiw unterrichtet: Es werde dringend mehr geschultes medizinisches Personal benötigt. Denn die Patient:innen, mit denen er arbeitet, haben nicht nur eine oder mehrere Amputationen hinter sich. «Wenn jemand im Kampf verwundet wurde, kommen weitere Verletzungen und Beeinträchtigungen hinzu: Sehstörungen, traumatische Hirnverletzungen und dann noch psychische Erkrankungen.» Diese Patient:innen seien zwar schwieriger zu behandeln, aber manchmal auch besonders motiviert. «Die meisten von ihnen sind junge Burschen und Mädchen», sagt er, «sie kämpften für unsere Freiheit, und jetzt kämpfen sie für ihr zukünftiges Leben.»
Pawlo Samokisch müsste nicht mehr zur Armee. Aber er wolle zurück, sagt er und zeigt, wofür er kämpft. Er scrollt durch die Fotoalben auf seinem Smartphone bis zu Bildern, die seine beiden Söhne und deren Kinder zeigen. Sie stehen vor einem kleinen Supermarkt im Heimatdorf der Familie im Oblast Dnipropetrowsk. Einer seiner Söhne heisst Wladislaw. «Wir haben bereits im Jahr 2014 zusammen gedient, an verschiedenen Orten. Er war in Luhansk und ich in Richtung Donezk, damals war er noch jung, erst 22 Jahre alt.» Als Russland die Ukraine überfiel, meldeten sich Vater und Sohn freiwillig. «Damit sie zumindest meinen anderen Sohn nicht einberufen. Ich dachte, solange ich im Dienst bin, werden sie ihn nicht anfassen. Aber mittlerweile gibt es in unserem Dorf bald niemanden mehr, den man noch einziehen könnte.»