Kommentar von Sarah Schmalz: Gegen den Bullshit
Die Schweiz diskutiert wieder einmal über «extreme» Linke. Im Wahljahr nur diese Scheindebatte zu führen, wäre fatal.
Es ist Wahljahr, und die Debatte über extreme Pole und intolerante Linke, die im Land geführt wird, ist so lahm wie irreführend. Natürlich hat, wer Polarisierung sagt, immer ein bisschen recht: Wie etwa in den USA gibt es auch in der Schweiz eine Tendenz zu verschärften Debatten und verhärteten Fronten. Doch verantwortlich dafür ist hier wie dort in allererster Linie die Rechte, die sich radikalisiert und die Grenzen des Sag- und Debattierbaren erfolgreich immer weiter verschoben hat.
Auch in den Nachbarländern der Schweiz haben sich rechtspopulistische bis rechtsextreme Parteien etabliert, die die rechtsstaatliche Ordnung gefährden. Eine der Vorreiterinnen dieser Entwicklung war die SVP, die sich bereits in den achtziger Jahren zu wandeln begann – von einer bürgerlich-konservativen zu einer nationalistischen, rechtspopulistischen Partei.
Wenn in dieser Gemengelage konstatiert wird, die Schweiz sei politisch besonders polarisiert, ist das deshalb eine gute Nachricht: Das bedeutet, dass es im Land nach wie vor eine echte Linke gibt – während diese in vielen anderen europäischen Ländern, etwa Frankreich, pulverisiert wurde. Und damit auch eine echte demokratische Auseinandersetzung.
Die Forderungen von SP und Grünen sind dabei nicht «extremer» geworden. Man könnte ihnen im Gegenteil gar vorwerfen, nicht sehr weit über zahme sozialdemokratische Forderungen hinauszugehen: bessere Sozialleistungen, Gleichberechtigung, die Wahrung der Grundrechte. Immerhin diese Fahne halten in der Schweiz die Sozialdemokratie und die Grünen hoch.
Die neuste Polarisierungsdebatte hat die «SonntagsZeitung» pünktlich zum Nationalfeiertag mit einem Artikel losgetreten, der auf die linken Wähler:innen zielte: Diese seien noch intoleranter als die rechten, weil sie die Meinung politischer Gegner:innen nicht tolerierten.
Die Tamedia-Zeitung leitete diesen Schluss aus einer «grossen europäischen Studie» ab – die erstens die Schweiz nicht mit einschliesst und zweitens bei den Studienteilnehmer:innen gar nicht nach Toleranz gefragt hatte, sondern lediglich danach, wie linke und rechte Wähler:innen die gegnerische Meinung bewerten. Also zum Beispiel: «Braucht es schärfere Klimaschutzmassnahmen?» Und: «Wie viel Verständnis haben Sie für die gegenteilige Meinung?» Das Resultat: Linke, urbane und oft überdurchschnittlich gebildete Wähler:innen zeigten im Schnitt weniger Verständnis für rechte Ansichten als umgekehrt (ausser beim Thema Migration). Daraus liesse sich auch einfach ableiten: Linke lehnen Rassismus, Sexismus und Wissenschaftsfeindlichkeit überwiegend entschieden ab. Während den Rechten wie gehabt vor allem bei der Migration der Puls hochgeht.
Ihre These der extremen linken Wähler:innen untermauerte die «SonntagsZeitung» mit einer Umfrage des britischen Fernsehsenders Channel4. Diese habe gezeigt, dass die Mehrheit der 13- bis 24-Jährigen davon überzeugt seien, «dass ausnahmslos alle Menschen ihre Rechte und Freiheiten einfordern sollten» – die Hälfte der Befragten befürwortete das sogenannte Canceln von Leuten, die gleiche Rechte und Freiheiten relativieren. Die «SonntagsZeitung» leitet daraus ab, diese Jungen hätten ein «seltsames Verständnis von demokratischer Lösungsfindung».
Dem Rechtspopulismus entschieden entgegentreten: Das würde auch den Medien gut anstehen. Die Bullshitdebatte um den sogenannten Woke-Wahnsinn, die Putin-Verehrer in den SVP-Reihen, die Leugnung des Klimawandels, die Hassparolen gegen Migrant:innen – all das hätte längst dazu führen müssen, dass die SVP in die Schranken gewiesen wird.
Dass sich das Gros der Medien stattdessen wieder einmal bei der billigen Hufeisentheorie bedient und behauptet, links sei so extrem wie rechts, ist zwar nicht erstaunlich – im Wahljahr aber fatal. Statt zu untersuchen, welche politischen Kräfte auf die brennendsten Fragen wie die Klimakatastrophe, die soziale Ungleichheit oder den Krieg gegen die Ukraine die besten Antworten liefern, wird wieder einmal bequem das Lied der «nüchtern-pragmatischen» Mitte gesungen, die es jetzt brauche.