Nach dem 1. Mai: Lustvoller Sozialismus
Was bleibt von diesem 1. Mai, ausser dass es wieder einmal aus Kübeln gegossen hat? Was ausser den Bildern aus Zürich und Basel, wo die Polizei Demonstrant:innen eingekesselt, mit Wasserwerfern beschossen und festgenommen hat (vgl. «Polizeiliche Absurditäten»)? Ein halbes Jahr vor den Parlamentswahlen zeichnet sich in der Schweiz kein linker Aufbruch ab, im Gegenteil. Der Kapitalismus frisst die Zukunft immer schneller. Und ein Ende des Kapitalismus scheint gerade weniger leicht vorstellbar als das Ende der Welt.
Wer ist nicht schon durchs Mittelland gefahren und hat sich über die scheinbar unverbrüchliche Idylle gewundert, angesichts der dystopischen Zeiten, in denen wir leben? Die Klimakatastrophe, die globale Konzentration des Kapitals bei immer weniger Konzernen und Superreichen, Bankencrashs, Umweltverheerungen – nichts davon ist in der Schweiz auf den ersten Blick sichtbar. Auch der Angriffskrieg des russischen Präsidenten Wladimir Putin – für den der Schweizer Rohstoffplatz noch immer eine der wichtigsten Drehscheiben ist – kommt hier nur als leises Unbehagen an.
Viele Wähler:innen scheinen derzeit vor allem an einem interessiert: Stabilität und Besitzstandswahrung. Bei den kantonalen Wahlen verschiebt sich wenig, leicht zulegen kann einzig die SVP – der erste Umfragen auch im Herbst den Wahlsieg prognostizieren. Die Rechten verstehen es, angesichts der Bedrohungen an den Rändern, angesichts bröckelnder Gewissheiten die kapitalistische Zukunft umso alternativloser darzustellen. Bald werden in Vorgärten Plakate der neuen «Geld und Gülle»-Allianz auftauchen: lächelnde bürgerliche Politiker:innen, die Wohlstand und Sicherheit versprechen. «Perspektive Schweiz» heisst die Kampagne, mit der die Wirtschaftsverbände und der Bauernverband erstmals gemeinsam in einen nationalen Wahlkampf ziehen und für ein «weiter wie bisher» werben.
Und die Linke? Dass sie derzeit stagniert, ist längst nicht nur ihr selbst zuzuschreiben. In den letzten Wochen hat sich etwa einmal mehr gezeigt, wie schief die Debatte über Linksradikale in diesem Land läuft. Wenn Scheiben klirren, gehen in der allgemeinen Empörungswelle jegliche Relationen verloren, statt eine nüchterne Einordnung zu liefern, stilisieren die Medien die linken «Chaoten» zum gefährlichsten Feindbild.
Gleichzeitig zeigt sich aktuell wieder: Das Band zwischen den Liberalkonservativen und der rassistischen SVP hält, selbst wenn deren Nationalrat und Agitator Roger Köppel nach Russland reist, um Kriegspropagandist:innen zu treffen. Im Kanton St. Gallen jedenfalls haben die Freisinnigen vergangenen Sonntag statt SP-Kandidatin Barbara Gysi die SVP-Programmchefin Esther Friedli in den Ständerat gehievt.
Und dennoch: Der 1. Mai hat auch linke Leer- und Schwachstellen offenbart. Die Bewegung schafft es derzeit zu wenig, die dringlichen weltpolitischen Probleme als Motor für einen Wandel zu nutzen. Und sie schreckt davor zurück, eine sozialistische Zukunftsperspektive zu formulieren. In Zürich, wo jeweils das landesweit grösste 1.-Mai-Fest stattfindet, standen dieses Jahr gerade mal drei Veranstaltungen zum Thema «Krieg gegen die Ukraine» auf dem Programm – auch weil sich Teile der antiimperialistischen Linken nicht deutlich genug vom russischen Angriffskrieg distanzieren (siehe WOZ Nr. 17/23).
In ihren Reden forderten Gewerkschafterinnen und Politiker bessere Löhne, bessere Sozialleistungen, mehr Chancengleichheit. Doch ein Sozialismus der Zukunft muss mehr wollen: eine radikale Umverteilung der Mittel, den ökologischen Umbau der Städte und der Landwirtschaft, kostenlose Gesundheitsversorgung und Bildung, die Enteignung von Immobilienkonzernen. Der Ausstieg aus dem zerstörerischen Wachstumskapitalismus kann zudem nur gelingen, wenn wir weniger arbeiten – und mehr gutes Leben für alle ermöglichen.
«Lust» müsste das linke Schlagwort heissen: auf eine Zukunftsperspektive jenseits der spätkapitalistischen Verheerung.