Vor den Wahlen in Österreich: «Dann kommt etwas ins Rutschen»
Wird sich die Hochwasserkatastrophe auf die österreichischen Wahlen auswirken? Die renommierte Politologin Natascha Strobl über den Kulturkampf der extremen Rechten in ihrem Land – und in Europa.
WOZ: Frau Strobl, Österreich wird von starken Unwettern heimgesucht, auch Niederösterreich, wo Sie leben. Wie geht es Ihnen gerade?
Natascha Strobl: Mein Mann war in den letzten Tagen beim Dammbauen, ich mit den Kindern daheim, die Schule ist ausgefallen. Die Lage entspannt sich nur langsam.
War die Katastrophe abzusehen?
Ja, aber der öffentliche Rundfunk hat sehr spät gewarnt. Unser bisheriges Frühwarnsystem wurde einfach abgeschaltet, obwohl das neue noch nicht richtig funktioniert. Politisch ist wirklich sehr viel schiefgelaufen. Gerade in Gebieten mit trockenen Böden wie Niederösterreich hat die schwarz-blaue ÖVP-FPÖ-Regierung alle Klimaschutzmassnahmen und den Hochwasserschutz vertagt. Jetzt häufen sich die Extremwetterereignisse. Doch der öffentliche Rundfunk strahlte zunächst tagelang Sendungen aus, in denen das Wort «Klimakrise» oder «Klimawandel» nicht ein einziges Mal fiel.
Wie wird das Ereignis gedeutet?
Es wird so getan, als hätte Gott eine Strafe geschickt. Das ist empörend – und sehr österreichisch. Die Parteien, die die Klimakrise die ganze Zeit leugnen, sagen jetzt, man dürfe dieses Ereignis nicht politisieren. Dabei wird jede Messerstecherei, jeder Raufhandel politisiert – so weit, dass man Menschenrechte ausser Kraft setzen will. Jetzt, wo Millionen von Menschen betroffen sind, sagt man: Das ist halt so passiert. Das zeigt die Strategie der Rechten: Man führt rasende Kulturkämpfe, und wenn andere über Politik sprechen wollen, ist man das Opfer.
Natascha Strobl
Die österreichische Politikwissenschaftlerin und Publizistin Natascha Strobl (39) gilt als Expertin für Rechtsextremismus. Für ihr Buch «Radikalisierter Konservatismus» erhielt sie 2021 den Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch. Strobl ist SPÖ-Mitglied und engagiert sich im Wahlkampf des Kanzlerkandidaten Andreas Babler.
Ende September wird in Österreich gewählt. Werden die Hochwasser einen Einfluss auf die Wahlen haben?
Das kann man gerade nicht öffentlich diskutieren, der unmittelbare Einsatz hat Priorität. Ob die Katastrophe der derzeit in Umfragen vorne liegenden FPÖ schaden wird, ist schwierig abzuschätzen. Die ÖVP positioniert ihren Bundeskanzler Karl Nehammer als super Krisenmanager, der er aber nicht ist. Die Grünen haben die authentischste Position, die warnen seit zwanzig Jahren vor so einem Ereignis. Und SPÖ-Chef Andreas Babler ist mit der Freiwilligen Feuerwehr im Einsatz, das ist natürlich auch authentisch.
Sie haben gesagt, es sei «sehr österreichisch», was gerade passiere. Können Sie uns bitte in aller Kürze Österreich erklären?
(Lacht.) Wo fängt man nur an? Österreich ist ein sehr gemütliches Land. Politisch prägten es lange die grossen Volksparteien, die ÖVP und die SPÖ. Aber seit ungefähr zehn Jahren ist nichts mehr so, wie es einmal war. Heute ist Österreich bei zwei Dingen ganz vorne mit dabei: bei der klassischen Musik und beim Rechtsextremismus. Das eine ist ein bisschen schöner als das andere.
Was begann sich vor zehn Jahren zu verschieben?
Um das Jahr 2016 herum ist der ÖVP-Politiker Sebastian Kurz auf der Bildfläche erschienen, das war eine Zäsur. Plötzlich war es die grosse Volkspartei ÖVP, die so gesprochen hat wie bis dahin nur die kleine, rechtsextreme FPÖ. Das hat das ganze politische Spektrum nach rechts verschoben. Wenn man heute verstehen will, wie rechtsextreme Parteien mehrheitsfähig werden, kann man nach Österreich schauen oder in Richtung Ungarn, da sind sich diese Länder sehr ähnlich.
2017 bildeten ÖVP und FPÖ eine Regierungskoalition, die ÖVP brach aber nach dem «Ibiza-Skandal» mit der FPÖ. Ein Video wurde publik, das unter anderem FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache mit der angeblichen Nichte eines russischen Oligarchen zeigte. Darin sprachen sie davon, Gesetze zur Parteienfinanzierung umgehen oder die Kontrolle parteiunabhängiger Medien übernehmen zu wollen. Wenig später stolperte auch Kurz über Korruptionsskandale. Wie ist es möglich, dass die extreme Rechte heute dennoch stärkste Kraft werden könnte?
Die FPÖ hat sich innerhalb weniger Jahre wieder aufgerichtet. Das hat viel mit dem neuen Parteichef Herbert Kickl zu tun. Er ist diszipliniert, nicht so ein Lebemann, der über Skandale aus der halbprivaten Sphäre stolpert wie Strache. Und die Coronaproteste haben eine sehr grosse Rolle gespielt. Die FPÖ hatte als erste Partei Tests und Lockdowns gefordert, aber dann schnell realisiert, dass es ihr nützt, wenn sie auf den Zug der Coronaproteste aufspringt und Verschwörungstheorien nährt.
Der aktuelle Wahlkampfslogan der FPÖ lautet «Festung Österreich, Festung der Freiheit». Mit was für einer FPÖ haben wir es heute zu tun?
Du musst dich einbunkern, damit du frei bist: Das trifft gut, wo die extreme Rechte hinwill. Und natürlich sind es militärische Begriffe, was suggeriert, wir seien im Krieg: «Wir oder die». Die FPÖ hatte schon immer einen rechtsextremen Kern, aber während Strache noch versuchte, das zu verharmlosen, macht das Kickl nicht mehr. Auf FPÖ-Demonstrationen laufen Leute mit Galgen herum. Kickl prahlt auf Wahlveranstaltungen mit Fahndungslisten, auf denen 2000 Namen stünden – Menschen, die dann schon sähen, was passiere, wenn die FPÖ an der Macht sei. Wir haben es aber auch mit einer Partei zu tun, die sich modernisiert hat: Man macht nicht mehr den traditionellen, verstaubten Rechtsextremismus in Tiroler Tracht.
Für Ihr neues Buchprojekt beschäftigen Sie sich mit der Strategie des Kulturkampfs, derer sich die Rechte bedient. Inwiefern ist Österreich ein Beispiel dafür?
Ich traue mich manchmal kaum zu erzählen, worüber in Österreich gerade diskutiert wird, weil es so absurd ist. Gerade empört man sich darüber, dass die Stadt Wien den Kindergärten verbiete, Symbole über die Garderobenhaken der Kinder zu kleben. Diese Story wurde von der «Kronen Zeitung» in die Welt gesetzt und stimmt so nicht. Doch sie wird gerne geglaubt, weil in Wien viele Ausländer:innen leben. Suggeriert wird, dass Muslim:innen hinter dem imaginierten Verbot stecken müssten. Oder irgendwelche «woken» Motive. Diesen Sommer haben wir auch darüber diskutiert, ob Weinköniginnen wirklich alles «echte» Frauen seien. Wenn ichs auf eine Formel runterbrechen müsste: Kulturkampf ist die Emotionalisierung der Anekdote.
Was ist die Funktion dieser Anekdoten?
Es gibt so viele reale Probleme: Klimawandel, Inflation, Kinderarmut, steigende Energiepreise, Arbeitslosigkeit, Fachkräftemangel. Aber das Geschlecht der Weinköniginnen und die Garderobenbildchen überlagern alles. Das bindet Energie, es bindet Aufmerksamkeit. Und dann gibt es immer diesen Feind, der nie sichtbar ist, aber das alles orchestriert, diese vielen kleinen Dinge, die angeblich zusammenhängen: die «Woken» oder die «Globalisten» – ein antisemitisches Codewort – oder ein Konglomerat an Verschwörern. Und, das ist das Wichtigste: Die Kulturkämpfe bewirken, dass sich jene, die glauben, was da erzählt wird, unterdrückt fühlen und Gewalt als legitimes Mittel der Notwehr ansehen. Wenn man diesen Sprung gemacht hat, wird alles zu einer «Wir oder die»-Frage.
Haben wir es mit einer eigentlichen Entpolitisierung des öffentlichen Raumes zu tun?
Ich würde eher sagen, es ist ein politischer Nihilismus. Man weiss überhaupt nicht mehr, was real ist, was wichtig ist, was Priorität hat. Es reicht ja schon, wenn diese Anekdoten wahr sein könnten. Dieses Leben im Konjunktiv verschiebt die Realität. Man muss auch bedenken: Die Medien spielen in Österreich eine sehr grosse Rolle. Die grösste Boulevardzeitung des Landes ist im Verhältnis mächtiger und auflagenstärker als die «Bild»-Zeitung in Deutschland. Sehr viele Medienprojekte wurden über die boulevardfreundliche Medienförderung, die von 2017 bis 2019 unter Schwarz-Blau erlassen wurde, nach oben gespült. Die haben Millionen von Euro bekommen dafür, dass sie jetzt – wie etwa die Plattform «Express» – diese Kulturkampfthemen bespielen.
Viele FPÖ-Wähler:innen informieren sich gemäss Umfragen «alternativ», also auf verschwörungsaffinen Internetportalen …
Der rechtsextreme, verschwörungsideologische Sender «Auf1» spielt hier eine sehr grosse Rolle. Mit dieser Art von Nachrichten wird der ganze deutschsprachige Raum bespielt – mit der Folge, dass sich die extreme Rechte den digitalen Raum nimmt und ihre Narrative hegemonial werden.
Eine Plakataktion in Graz zeigte Kickl mit NS-Symbolik und Nehammer mit Engelbert Dollfuss, dem Begründer des Austrofaschismus …
Man sollte Faschismus und Rechtsextremismus nicht synonym verwenden. Ich bin jedoch dafür, sehr besonnen, aber ernst die Faschismusfrage zu diskutieren. Denn wir wissen aus der Geschichte, dass es nicht so viele Möglichkeiten gibt, den Faschismus aufzuhalten, wenn einmal erste Schwellen überschritten sind. Was wir derzeit sehen, ist, dass faschistische Diskurse stark Verbreitung finden – nicht nur durch Hardcorefaschisten. Es gibt heute zudem verschiedene Fraktionen mit faschistischen Tendenzen, die ein Bündnis bilden, weil sie so ihre Interessen am besten durchsetzen können – das war auch im historischen Faschismus so.
Was für Fraktionen meinen Sie?
Wir haben die Kulturkampfrechte, die Kapitalfraktionen, es gibt den genuinen Techfaschismus im Silicon Valley, es gibt bestimmte Antworten auf die Klimakrise, die sich in ein faschistisches Projekt einfügen lassen. Wladimir Putin führt einen faschistischen Krieg, Viktor Orbán träumt von einem Grossungarn. Wir haben Faschismus ganz lange als Ultranationalismus gesehen, als ein nationales Projekt. Vielleicht ist das nicht mehr zeitgemäss, vielleicht müssten wir ihn mehr als übernationales Machtprojekt begreifen. Vielleicht gab es im 20. Jahrhundert nichts Grösseres als die Nation, aber jetzt gibt es das Internet. Wenn man den digitalen Raum beherrscht, hat man ziemlich viel gewonnen. Es ist natürlich die Frage, wie sich das in den analogen Raum übersetzt, ob dieser Faschismus in eine organisierte Form übergeht. Aber ich plädiere dafür, die sozialen Medien als Realität zu sehen. Das sind digitale Schlägertrupps, die dort auf Leute losgehen.
Wie definieren Sie Faschismus?
Wenn wir uns diese Mobs im Internet anschauen, die einfach nur Blut sehen wollen, sind wir, glaube ich – mit Hannah Arendts Definition von Faschismus als Bündnis von Mob und Elite – sehr nahe bei dem, was uns auch gegenwärtig präsentiert wird. Mit Robert Paxton gesprochen, ist Faschismus zudem die einzige politische Ideologie, die Gewalt nicht rationalisieren muss, sondern die Gewalt ohne Grenzen, ohne moralische, juristische, politische Grenzen, kennt.
Sie haben erwähnt, dass sich faschistische Diskurse stark verbreiten. Welche meinen Sie?
Faschistische Diskurse zeichnen sich dadurch aus, dass sie von einer Dekadenzdiagnose ausgehen: Alles ist in einem Niedergang, den man durch einen gewaltvollen Akt nach vorne überwinden muss. Etwas muss gereinigt werden, etwas muss vernichtet werden, dann kann es wieder gut sein. Da steckt ein starker Sozialdarwinismus drin, der schon immer Kern des Faschismus war. Wir haben solche Diskurse während der Pandemie gesehen. Lohnt es sich wirklich, auf die Alten und Kranken und Menschen mit Behinderung Rücksicht zu nehmen, oder sollen die nicht lieber sterben? Dass Ausländer unsere Haustiere essen, das hat nicht Donald Trump erfunden, diese Erzählung hatten wir eins zu eins im 19. Jahrhundert. In der Asyldebatte haben wir diese Diskurse die ganze Zeit. Und ich gehe davon aus, dass die Rechten auch bei der Klimafrage immer stärker auf solche Diskurse setzen werden.
Können Sie das etwas ausführen?
Nehmen wir etwa die Zehn-Millionen-Schweiz-Initiative der SVP. Die behauptet ja, wir müssten eine Abwägung treffen zwischen Umwelt und Menschen, die Überbevölkerung sei schuld an der Klimakrise. Das Zweite, was sie damit sagt, ist: Zu viel sind die, die herkommen. Es sind in dieser Erzählung die Menschen aus dem Globalen Süden, die das Klima kaputt machen. Wenn man das weiterspielt, heisst das: Die müssen vielleicht sogar im Mittelmeer ertrinken, damit das Klima gerettet wird. Das wird so natürlich nicht ausgesprochen, aber es ist die Idee dahinter. Erst setzt man die Bevölkerungszahl der Schweiz fest, dann die von Europa, dann die der Welt. Diese Idee ist eine faschistische, und ich glaube, die extreme Rechte wird künftig so mit der Klimadiskussion umgehen. Sie wird den Klimawandel ja nicht länger leugnen können, wenn er so evident ist. Und das Problem ist natürlich, wenn eine Gesellschaft das einmal akzeptiert, Menschen so zu sehen, wie die extreme Rechte sie sieht, dann kommt etwas ins Rutschen.
Gleichzeitig gibt es ja auch eine grosse Bewegung, die sich eine solidarischere Zukunft vorstellt. Wo stehen wir also?
Es ist alles offen. Und das liegt uns natürlich nicht. Wir hätten als Gesellschaft gerne, dass wir wissen, wie es weitergeht. Aber diese Zukunft ist verschwunden. Nun kann es furchtbar werden. Aber es kann auch gut werden, noch demokratischer, noch inklusiver. Um diesen Zukunftsentwurf muss man aber auch kämpfen.
Die konservativen und die liberalen Kräfte sind in vielen Ländern nach rechts gerückt. Und wenn man sich die parlamentarische Linke anschaut, ist auch nicht gerade Optimismus angezeigt. In Deutschland etwa steht auch die Sozialdemokratie nicht mehr für eine pluralistische Gesellschaft ein.
Die SPD macht gerade alle typischen Fehler der Sozialdemokratie – aber zehn Jahre später als in anderen Ländern. Es ist unschön, was in Österreich passiert, aber Deutschland ist entscheidender. Deutschland war lange stabil. Wenn es kippt und einen rechtsextremen Weg geht, dann kippt Europa. Es ist ein fataler Fehler, der AfD so unverschämt recht zu geben. Zu sagen: Jetzt machen wir das auch, aber wir machen es ein bisschen schöner. Das darf nicht die Botschaft sein. Man müsste sagen: Die AfD hat einfach unrecht. Nicht nur auf der Werteebene, sondern auch sachlich. Grenzkontrollen helfen nichts gegen Gewalttaten.
Wenn wir nochmals auf Österreich zu sprechen kommen: Herbert Kickl inszeniert sich als «Volkskanzler». Was sagt das über die Vergangenheitsbewältigung Österreichs, wenn er Kanzler wird?
Kickl war schon mal Innenminister. Und als solcher hat er mit einer Polizeieinheit zur Bekämpfung der Strassenkriminalität die Büros des Verfassungsschutzes durchsuchen lassen. Die haben Daten und Akten mitgenommen, die für immer verschwunden sind. Das hat das Vertrauen anderer Geheimdienste in den österreichischen erschüttert. Bis heute: Auch die Informationen zum geplanten Anschlag auf das Taylor-Swift-Konzert in Wien gingen nicht über den österreichischen Geheimdienst, sondern über den militärischen Abwehrdienst. Das muss man über Kickl als Politiker wissen. Es ist völlig klar, was man mit ihm bekommt. Der wird seine Politik durchziehen. Konventionen, Gesetze – das spielt dann keine Rolle mehr. Wenn die FPÖ an die Macht kommt, hat sie Zugriff auf die Medien, den Kulturbereich, den Sozialstaat, die Schulen, die Staatsanwaltschaften. Und es wird keinen Klimaschutz geben.
Kickl kann allerdings nur Kanzler werden, wenn die ÖVP es zulässt.
ÖVP-Chef Nehammer behauptet, es gebe keine Regierung mit Kickl. Aber das Vertrauen in die ÖVP ist aufgebraucht. Sie hat schon in mehreren Bundesländern versprochen, nicht mit der FPÖ im Landtag zusammenzugehen – und es dann doch getan.
Eine Brandmauer hat es in Österreich ohnehin nie gegeben.
Es gibt nicht mal ein Löschblatt. Aber wenn die ÖVP tatsächlich mit Kickl einen rechtsextremen Kanzler zulässt, ist das die grösste Zäsur, die man sich vorstellen kann.