Abstimmungssieg: Es brodelt im Land
Die linken Erfolge in diesem Jahr zeigen: Bundesrat und Parlament politisieren an der Bevölkerung vorbei. Woran könnte das liegen?
Es ist in der jüngeren Geschichte der Schweiz eine wohl einmalige Siegesserie der Linken: zuerst im März die Annahme einer 13. AHV-Rente, im September dann die Verhinderung einer vermurksten Pensionskassenreform und jetzt am Sonntag der Coup gegen den Autobahnausbau und für den Schutz des Mietrechts. Gewiss, in der Gesundheitspolitik gab es auch Niederlagen, bei der Prämien-Entlastungs-Initiative im Juni und jetzt beim Finanzierungssystem Efas. Doch auch bei diesen Abstimmungen lagen Mehrheiten in Reichweite. Insgesamt will die Schweizer Bevölkerung in der Tendenz eine solidarischere und ökologischere Politik – und denkt in gesellschaftlichen Fragen offener als die rechtsbürgerlichen Parteien: So scheiterte in Zürich am Sonntag auch ihr kulturkämpferisches Prestigeprojekt für das Verbot einer gendergerechten Schreibweise bei den Behörden deutlich. Tschüss, Genderstern? Hallo, Selbstverständlichkeit!
Grösste Mühe, die neue Entwicklung zu beschreiben, haben ausgerechnet jene, die das von Berufs wegen tun sollten. Reflexhaft verbreiten die meisten Medien trotz der linken Erfolge weiterhin lieber eingerostete SVP-Denkmuster: Als «Plebiszit über die Zuwanderung» bezeichnete die «Zeit» das Autobahnresultat, während der «Tages-Anzeiger» wie immer den nationalen Politgeografen um Rat ersuchte, der «Wachstumsschmerzen» konstatierte, an denen die Schweiz angeblich leide. Die Debatte hätte wohl noch Wochen gedauert, wenn nicht das Institut «LeeWas» seine Nachwahlbefragung publiziert hätte. Wenig überraschend gaben zwei Hauptgründe bei den Gegner:innen des Autobahnausbaus den Ausschlag: verkehrs- und klimapolitische.
Was also ist tatsächlich los in der Schweiz? Einige Beobachtungen ganz oben, auf der Ebene der Macht; in der Mitte bei der Mobilisierung der Parteien und Verbände; und unten in den Lebensrealitäten der Bevölkerung.
Oben: Konservative Verzerrung
Ganz oben begann die jetzige Entwicklung spätestens am 13. Dezember 2023. Im Bundesrat wurde zum wiederholten Mal die rechtsbürgerliche Mehrheit aus FDP und SVP bestätigt. Nach dem Abtritt des machtbewussten Alain Berset hatten Karin Keller-Sutter und Albert Rösti freie Bahn: Letzterer begann, auf dem Verordnungsweg das SVP-Parteiprogramm in Sachen Umwelt und Service public zur Regierungslinie zu machen, Erstere folgte ihm mit einem ideologisch geprägten Sparpaket. Statt auf Konsens setzen die beiden also auf Konfrontation – während sich ihre Fraktionen im Parlament im Wettbewerb um möglichst viel Härte in der Asyl- und Migrationspolitik überbieten. Die Bevölkerung, so das Kalkül, will das auch so.
Eine Fehlannahme, die nicht nur in der Schweiz verbreitet ist. Das zeigt eine bemerkenswerte internationale Studie, die diesen Frühling erschienen ist. Der schöne Titel: «Denken Politiker:innen ausserhalb der USA ebenfalls, dass die Wähler:innen konservativer sind, als sie es tatsächlich sind?» Ausgehend von einer entsprechenden US-Studie, wurden in Kanada, Belgien, Deutschland sowie in der Schweiz Politiker:innen zu den mutmasslichen Einstellungen ihrer eigenen Wähler:innenschaft befragt – und die Wähler:innen nach ihren tatsächlichen Ansichten. Das Fazit: «eine beträchtliche konservative Verzerrung in der Wahrnehmung der Politiker:innen». Diese schätzen sowohl die Meinung der Öffentlichkeit wie auch die ihrer Wähler:innen stärker rechtsorientiert ein, als sie es in der Realität sind. Dabei spielt es keine Rolle, wo im Spektrum sich die Politiker:innen selbst verorten.
Für die Schweizer Diskussion sind zwei Befunde der Studie, an der Frédéric Varone und Luzia Helfer von der Universität Genf beteiligt waren, besonders interessant. Am ausgeprägtesten ist die rechte Schlagseite bei der Rentenpolitik, und zwar in allen Ländern. In Belgien und in der Schweiz gibt es zudem eine Fehleinschätzung der öffentlichen Meinung zum Thema Migration: Auch diese wird weiter rechts verortet, als sie tatsächlich ist. Wie es zu diesen Annahmen kommt, dazu gibt es für die europäischen Staaten noch keine Erkenntnisse. Aber eine Vermutung, die auf das Schweizer Parlament mit all seinen Wirtschaftslobbyist:innen gut passen würde: «Die Politiker:innen könnten unverhältnismässig rechtslastige Informationen von Interessengruppen aus der Wirtschaft erhalten», heisst es in der Studie.
In der Mitte: Geölte Maschine
Bundesrat und Parlament politisieren also offenbar an der Bevölkerung vorbei. Gleichzeitig gelingt es den linken Parteien, Gewerkschaften und Verbänden, ihre Interessen für die Abstimmungen zu bündeln. «Klar sind die aktuellen Abstimmungserfolge Mobilisierungserfolge. Aber jede Mobilisierung beginnt mit der richtigen Themensetzung», sagt Marco Kistler von der Kampagnenagentur «digital/organizing», die an den meisten nationalen Abstimmungskämpfen in diesem Jahr beteiligt war. «Unsere Themen beschäftigen sich direkt mit der Lebensrealität der Bevölkerung. Insbesondere die Leute mit niedrigeren Einkommen stimmen mehrheitlich mit uns. Es geht hier auch um einen Klassengegensatz, den das Parlament und die Medien fast völlig ignorieren.»
Entscheidend bei der Mobilisierung sei es, die eigene Klientel zu motivieren – und gleichzeitig die Gegner:innen zu demobilisieren. Das scheint auch am Sonntag wieder passiert zu sein. Eine Schätzung von «digital/organizing» mit Zahlen aus allen Gemeinden zu den letzten Wahl- und den aktuellen Abstimmungsergebnissen legt nahe, dass vor allem die rechtsbürgerlichen Wähler:innen zu Hause blieben. Gemäss der Berechnung haben fast gleich viele Wähler:innen von SP und SVP an der Abstimmung teilgenommen, obwohl Letztere in einzelnen Kantonen fast den doppelten Wähler:innenanteil ausweisen kann. Auch die Basis der Grünen war überdurchschnittlich gut mobilisiert, die Stimmbeteiligung in den Städten sehr hoch.
Dass die linke Mobilisierung funktioniert, hat mit einer gut geölten Kampagnenmaschinerie zu tun: Über digitale Direktkontakte werden von Parteien, Gewerkschaften und NGOs inhaltliche Argumente an Unterstützer:innen verbreitet und Kleinspenden zur Finanzierung der Kampagnen eingetrieben. Hat die Linke derzeit technologisch einfach die Nase vorn, wie das FDP-Präsident Thierry Burkart beklagt? Kistler relativiert. «Es gehört zum Selbstverständnis der Linken, dass wir nicht top-down arbeiten, sondern als Basisbewegung mit den Menschen. Dieser Ansatz findet bloss seine Fortsetzung im digitalen Raum.»
Unten: Lokale Vernetzung
Eine beispielhafte Basisbewegung war der Widerstand gegen den Autobahnausbau. Tonja Zürcher von der Organisation Umverkehr zeigt sich zwei Tage nach der Abstimmung noch immer vom Erfolg überrascht. Auf ein Nein in den betroffenen Städten habe man hingearbeitet. Dass es nun gleich für ein nationales reichte, damit hat auch sie nicht gerechnet. Einen entscheidenden Grund sieht sie darin, dass der Anfang der Kampagne bei lokalen Basisbewegungen in den Städten lag, die sich vernetzten. «Der Bundesrat hat mit seinen veralteten Plänen offenkundig unterschätzt, dass die Diskussion vor Ort viel weiter ist: Grosse Teile der Bevölkerung wissen längst, dass immer mehr Strassen nur mehr Verkehr bringen.»
Für viele sei die Verkehrspolitik, über die seltener national abgestimmt werde, ein wichtiges Thema in ihrem Alltag. «Uns wurde in den letzten Wochen förmlich das Büro eingerannt von Unterstützer:innen, die nach Werbematerial fragten», sagt Zürcher. 300 000 Post-it-Zettel, die zu einem Nein aufriefen, hat Umverkehr verteilt. Ein weiterer Hinweis, dass der Abstimmungskampf nicht nur im digitalen Raum stattfand – sondern auch auf der Strasse.
Ob es mit dem linken Schwung weitergeht, lässt sich schwer abschätzen. Dass es brodelt in der Schweiz und neue Themen auftauchen, das zumindest zeigte sich letzte Woche auch in der klirrenden Kälte auf der Bundesterrasse. Während sich die meisten Medien an der SVP-Initiative zur sogenannten Zehn-Millionen-Schweiz abarbeiten, wurde hier die Demokratie-Initiative für ein Recht auf Einbürgerung eingereicht. Sehr viele und sehr junge Leute waren gekommen. Die Übergabe der Unterschriften wurde zu einem kleinen Volksfest.