Sachbuch: Mehr Apokalypse wagen
Der einst «glückliche Arbeitslose» Guillaume Paoli plädiert in seiner Essaysammlung «Geist und Müll» für einen aufgeklärten Katastrophismus.
In den achtziger Jahren schaffte es die deutsche Endzeitstimmung als «German Angst» bis in den englischen Wortschatz. Die Furcht vor Atomkrieg, GAU und Waldsterben als Lebensgefühl einer ganzen Generation. Heute mag man über diesen Zeitgeist spotten – doch damals war er ein wichtiger Motor der Politisierung. Millionen gingen gegen Militarismus und Naturzerstörung auf die Strasse. Zur Vermeidung von Katastrophen gehört es auch, dass man Gefahren rechtzeitig erkennt.
Den deutsch-französischen Philosophen Guillaume Paoli treibt in seinem Buch «Geist und Müll» die Frage um, warum von dieser Angst heute, da die industrielle Moderne beharrlich auf ihren Untergang hinarbeitet, zumindest in Deutschland keine Rede mehr ist. Während man im französischen Sprachraum breit über Zusammenbruchsszenarien diskutiert und mit der Disziplin der «Kollapsologie» sogar eine eigene Theorieströmung entstanden ist, will man hierzulande vom Weltuntergang nichts wissen. «Vergessen der Kulturpessimismus, vergessen die Fundis, und vor lauter Schmunzeln über die ‹Waldsterben-Hysterie› von einst sieht keiner, dass der Wald heute tatsächlich stirbt», schreibt Paoli. «Gefeiert wird stattdessen die Versöhnung von Industrie und gutem Gewissen, die Fortsetzung des Modernisierungsprojekts mit saubereren Mitteln.»
Gespenstisch unhysterisch
In Anbetracht dieser kollektiven Selbstsedierung fordert Paoli: «Mehr Apokalypse wagen.» Zwar werde die Klimakatastrophe nicht von einem Tag auf den anderen über die Menschheit hereinbrechen, doch auch eine «Kaskade» sich gegenseitig verstärkender Krisen sei ein Desaster. Paoli hat recht: Schon jetzt erleben wir, dass Dürren, Wasser- und Lebensmittelknappheit, Überschwemmungen, Seuchen, Verteilungskonflikte, Finanzkrisen, Unruhen, Fluchtbewegungen und Kriege ineinandergreifen und sich gegenseitig verschärfen. Gemessen an der Lage, ist die gesellschaftliche Stimmung geradezu gespenstisch unhysterisch.
In 123 Kurzessays und Langaphorismen denkt Paoli, bestens informiert, darüber nach, was uns an Kollaps bevorsteht und wie darüber gesprochen werden sollte. Und er mischt sich auch in aktuelle politische Debatten ein. Über die Hoffnung, das bestehende Gesellschaftssystem «grün» transformieren zu können, ergiesst er sich in beissendem Spott. Müll sei die Kehrseite des Wertes, schreibt Paoli in Anlehnung an die «Rubbish Theory» des britischen Anthropologen Michael Thompson: Wertschöpfung gehe notwendigerweise mit Müllschöpfung einher.
Zentrale Bedeutung in Paolis Argumentation hat das Entropiegesetz, das die Unumkehrbarkeit von Energietransformationen beschreibt. Der rumänische Mathematiker und Ökonom Nicholas Georgescu-Roegen hatte schon 1971 mokiert, die liberalen Wirtschaftswissenschaften hätten keine Ahnung von physikalischen Gesetzen, und verwies auf die Zunahme der Entropie bei stofflichen Prozessen. Grob vereinfacht ausgedrückt, ist Entropie eine thermodynamische Zustandsgrösse. Das mit ihr zusammenhängende Gesetz besagt, dass Energie in geschlossenen Systemen zwar nicht verloren gehen kann, aber so transformiert wird, dass sie danach stärker im System verteilt ist. Wenn man ein Stück Kohle verbrennt, diffundiert die in ihr gebundene Energie im Raum und danach in der Atmosphäre. Weil sich diese Wärme nicht mehr als Energiequelle nutzen lässt, wird im Zusammenhang mit dem Entropiegesetz oft von «wachsender Unordnung» gesprochen. Georgescu-Roegen folgerte daraus, dass alle Produktionsprozesse mit unumkehrbaren Energie- und Materialtransformationen einhergehen und es daher physikalische Schranken des Wachstums gebe. Die Mainstreamökonomie ignoriere diese stofflichen Grundlagen. Paoli spitzt die These zu: «Die kapitalistische Produktionsweise ist beschleunigte Entropie. Das Anthropozän ist in Wirklichkeit ein Entropozän.»
Trotzdem ist Paolis «Geist und Müll» kein politisches Manifest. Als Schüler des linksradikalen französischen Situationismus interessiert sich Paoli viel zu sehr für die ästhetische Form und das Infragestellen eigener Aussagen. Elegant flaniert er zwischen Alltagsbeobachtungen, Philosophie und Literatur und widersetzt sich jeder allzu engen politischen Interpretation: Eben noch geht es en passant um die Geschichte des südpazifischen Inselstaats Nauru (der mit dem Export von Vogeldünger reich wurde, sich als globales Steuerparadies und später als Müll- und Flüchtlingsdeponie der Australier:innen neu erfand und schon bald im Meer versunken sein dürfte) als Allegorie auf den modernen Weltgeist. Dann wieder spottet er darüber, wie tschechoslowakische Kulturbürokraten 1963 erörterten, ob und unter welchen Voraussetzungen Franz Kafkas «Process» im sozialistischen Lager aufgelegt werden könne. Und schliesslich entzaubert Paoli auf gerade einmal zehn Seiten den in ökologischen Zusammenhängen zuletzt so gefeierten französischen Denker Bruno Latour als parareligiösen Scharlatan, dessen Thesen genau jene Zusammenhänge verschleierten, die für die globale ökologische Krise verantwortlich seien.
Einige Rezensent:innen haben kritisiert, Paoli drücke sich am Ende um politische Lösungsvorschläge. Doch wer das behauptet, hat nicht verstanden, was der Philosoph will. Der situationistischen Tradition verpflichtet, setzt er konsequent auf das Hinterfragen, Umherschweifen und Aneignen und auf die schöpferische Kraft der Negation. Dabei gibt Paoli, der sich einst als «glücklicher Arbeitsloser» und «Demotivationstrainer» im deutschen Kulturbetrieb einen Namen gemacht hat, durchaus Auskunft darüber, wo es seiner Ansicht nach hingehen müsste. Die alte linke Entfremdungskritik sei gar nicht so schlecht gewesen, meint er. Wer gegen Lohnarbeit, Leistungsbereitschaft, Inwertsetzung und die Zerstörung sozialer Räume ins Feld ziehe, liege schon mal nicht falsch.
Schrödingers Katze
Der Begriff der «negativen Entropie» ist schliesslich so etwas wie Paolis Gegenentwurf. Er verweist auf einen Physiker: nämlich auf Erwin Schrödinger, der durch sein Gedankenexperiment einer in einem quantenmechanischen Zustand gefangenen Katze weltberühmt wurde. 1943 definierte Schrödinger das Leben in einem Vortrag als Negation der Entropie: «eine räumlich wie zeitlich beschränkte Möglichkeit, dass aus Chaos Selbstorganisation entsteht». Tatsächlich scheint das Leben, das auf unserem Planeten Sonnenenergie in hochkomplexe Ordnung verwandelt, der physikalischen Tendenz zu wachsender Unordnung zu widersprechen. Paoli macht aus Schrödingers Definition ein politisches Motto: «Überall, wo Industrieanlagen das knappe Grundwasser in Beschlag nehmen, überall, wo die kapitalistische Entropie wütet», sei die Gegenbewegung, die «Negentropie in Form von Störungen und Blockaden erwünscht». Gegen das kapitalistische Entropozän will Paoli die Macht der negativen Entropie in Stellung bringen: radikale Selbstorganisation, die aus zunehmendem Chaos erwächst.
Guillaume Paoli hat ein grossartiges Buch geschrieben. Ein Plädoyer für ein gutes Leben jenseits der Produktions- und Arbeitsmühle, die – nicht erst seit gestern – die Grundlagen unserer Existenz zerstört.