David Mixner: «Wenn eine:r von uns diskriminiert wird, werden wir es alle!»

Nr. 35 –

Ein Queeraktivist der ersten Stunde und Intersektionalist avant la lettre: David Mixner blickt zurück auf sechs Jahrzehnte in sozialen Bewegungen.

Am Ende gibt es Standing Ovations. Das Publikum in der «Nieuwe Kerk» – der Neuen Kirche in Amsterdam – erhebt sich und applaudiert seinem Gast, der extra für diesen Vortrag den Atlantik überquert hat. Kurz vor der weltweit bekannten Pride Amsterdam haben die Organisator:innen ihn eingeladen, um ein neues Format zu begründen: Beim «Pride Talk» sollen jährlich LGBTIQ+-Aktivist:innen von überall auf der Welt aus ihrem Leben erzählen. Den Anfang macht David Mixner, der kürzlich 77 Jahre alt wurde.

Aufgewachsen in äusserst ärmlichen Verhältnissen in einer Kleinstadt in New Jersey, politisierte er sich zu Highschoolzeiten durch das Interesse an der Bürgerrechtsbewegung. Mixner wollte als Teenager in die Südstaaten reisen, um diese zu unterstützen, doch seine Eltern liessen ihn nicht. Drei Personen inspirierten ihn damals: Präsident John F. Kennedy, Papst Johannes XXIII. (Mixner ist Katholik und nennt sich noch immer einen Anhänger der Befreiungstheologie) sowie Martin Luther King.

Als junger Collegestudent an der Arizona State University in Tempe organisierte er dann einen Solidaritätsmarsch für den Streik ausgebeuteter Müllarbeiter. In Mixners Familie gehörten Gewerkschaften zum Bezugsrahmen. «Sie stehen kollektiv ein für Leute, die am Arbeitsplatz nichts zu sagen haben», beschrieb er es einmal. Ein Satz, der programmatisch wurde für all die Kämpfe, die Mixner in den kommenden Jahrzehnten kämpfen würde. «Themen kommen und gehen», sagte er einmal, «aber Werte und Prinzipien nicht. Sie sind der essenzielle Kern dessen, was du bist.»

29 Grabreden

Wenige Tage vor seinem Amsterdamer Vortrag blickt David Mixner zurück auf seine Laufbahn als Aktivist und erzählt im Onlinegespräch von seinem Wohnzimmer in New York aus davon. Jenen seine Stimme zu leihen, die selbst keine haben, nennt er «eine moralische Verpflichtung». Er war eine bedeutende Persönlichkeit in der Bürgerrechtsbewegung und im Widerstand gegen den Vietnamkrieg, gehörte der McGovern-Fraser-Kommission zur Reform der Demokratischen Partei an und war im Team des Vietnamkriegsgegners Eugene McCarthy, als dieser ihr Präsidentschaftskandidat werden wollte.

Der LGBTIQ+-Aktivist David Mixner wurde erst später geboren. 1976, mit dreissig Jahren, ging er nach Kalifornien und outete sich. Danach war er für einige Jahre in seinem Elternhaus nicht mehr willkommen, und auch politische Freund:innen wandten sich von ihm ab. Eine Erfahrung, die ihm schwer zusetzte. Bald danach festigte die Aidskrise sein Engagement in der Regenbogencommunity. Mixner hielt 29 Grabreden, verlor Hunderte ihm nahestehende Menschen, darunter seinen Lebensgefährten Peter Scott, und gehörte zu den Initiatoren einer Gruppe, die sich geschworen hatte, keinen HIV-Infizierten allein sterben zu lassen. Eine seiner Antriebsfedern, sagt er, sei «bedingungslose Liebe».

Im Grunde lassen sich Ansatz und Praxis dieses Mannes als Intersektionalität avant la lettre bezeichnen. Aktuelles Beispiel: seine Bestandsaufnahme der USA. Unter dem Radar sei Homophobie immer vorhanden gewesen, sagt er. «Donald Trump gab den Leuten die Erlaubnis, sie öffentlich auszuleben.» Der Hass betreffe aber nicht nur die LGBTIQ+-Community. «Wir sehen offenen Antisemitismus und Feindlichkeit gegenüber Einwanderung, und allein die Worte ‹Black Lives Matter› zu sagen, ist sehr politisch. Die Situation ist so hässlich wie vielleicht seit dem Vietnamkrieg nicht mehr. Es ist, als habe sich der Hass geoutet und überflute den Diskurs der amerikanischen Gesellschaft.»

Wer sich mit Mixner unterhält, merkt schnell, wie sehr das Leitmotiv der gleichbleibenden Ideale in unterschiedlichen Themen, Kämpfen und Bewegungen seine Reflexion und Analyse prägt. So rühmt er die Solidarität lesbischer Frauen gegenüber schwulen Männern während der Aidskrise, während es in deren Szene durchaus Frauenfeindlichkeit gegeben habe. Heute, sagt er, solle in der Regenbogengemeinschaft niemand glauben, es tangiere ihn oder sie nicht, wenn Frauenrechte eingeschränkt würden. «Wenn sie Abtreibung illegalisieren, sollten wir uns nicht einbilden, dass uns das nicht betrifft!»

Dementsprechend ist auch seine Perspektive auf die Bewegung zugleich breit und detailliert. «Es gibt eine dramatische Zunahme der Hasskriminalität gegenüber der LGBTIQ+-Gemeinschaft um dreissig bis vierzig Prozent, besonders gegenüber unseren Transgenderbrüdern und -schwestern», sagt er. Transgenderpersonen, analysiert er, seien in den Fokus rechter Agitation geraten, weil etwa die homosexuelle Ehe derzeit nicht angreifbar sei. Für ihn freilich ist die Antwort klar: «Wenn eine:r von uns diskriminiert wird, werden wir es alle!»

Mit schwulen Männern, die aus Empörung über genderneutrale Toiletten in den Anti-Woke-Chor miteinstimmen oder gar zu Anhängern von Trump oder DeSantis werden, kann er daher wenig anfangen. «Ich habe Empathie für sie. Wir müssen sie befreien wie alle anderen auch, aber es ist ziemlich fucked up.» Dann lacht Mixner, so, wie er es häufig tut. In diesem Gespräch und auch wenige Tage später während seines Vortrags in Amsterdam. Humor, sagt er, habe ihm immer geholfen, in gefährlichen, schmerzvollen Situationen, im Gefängnis.

Sogar die nächtlichen Anrufer, «weisse Männer, betrunken, südlicher Akzent», die ihn immer mal wieder belästigen, wird er mit seiner sarkastischen Schlagfertigkeit inzwischen schnell los. «Sie sagen: ‹Du bist David Mixner? Du Schwuchtel, ich weiss, wo du wohnst. Ich komm und schiess dir deinen Scheisskopf weg!› Inzwischen antworte ich darauf: ‹Wow, das klingt heiss. Willst du auf ein Date gehen?› Dann legen sie sofort auf.»

Verbotene Bestseller

Amsterdam, die selbsterklärte «gay capital» und für ihn in schweren Zeiten Zufluchtsort und Inspiration, ist das treffende Dekor für Mixners Vortrag. Dieser oszilliert zwischen den Errungenschaften der Regenbogenbewegung, «eine der schnellsten Verbesserungen der Rechte einer Gruppe, die es je gab», und dem rabiaten Druck, unter den sie weltweit (wieder) geraten sind. Er erfährt diese Ambivalenz auch am eigenen Leib: Mehrere Bestseller, die er geschrieben hat, sind heute in fünf US-Staaten nicht erhältlich.

Dass genau hier, wo im Vorfeld der Pride jeden Tag mehr Regenbogenfahnen gehisst werden, in diesem Sommer die Dragqueen Miss Envy Peru mitten in der Stadt mit einer Waffe bedroht wurde, sieht er als Alarmsignal. Oder dass, genau wie in den USA, Eltern ihre Kinder zu Hause behalten, wenn in den Schulen aus Solidarität mit der LGBTIQ+-Bewegung der «Purple Friday» begangen wird. «Da muss ich wirklich innehalten und sagen: Holy fuck!»

Ob er je gedacht hätte, einen solchen Backlash zu erleben? Mixner verneint entschieden. Er zählt die Hinrichtungen im Iran auf, die Todesstrafe für Homosexuelle in Uganda, lebenslange Haftstrafen in zahlreichen Ländern, die LGBTIQ+-freien Zonen in Polen. «Ich weiss nicht, ob dieser Kampf je zu Ende sein wird. Aber wir werden uns wehren.» Wie? Was David Mixner betrifft, genau so, wie er das schon immer getan hat: «Mit bedingungsloser Liebe anderen die Hände reichen und dann: Fight like hell!»