Sexuelle Orientierung: «Viele denken, wir sind doch im Jahr 2020 …»

Nr. 2 –

Fünf Wochen vor der Abstimmung über die Ausweitung der Antirassismusstrafnorm auf die sexuelle Orientierung: Im Gespräch mit jungen Menschen aus der LGBTIQ-Bewegung.

Die Erweiterung der Antirassismusstrafnorm wäre ein klares Signal der Gesellschaft: LGBTIQ-AktivistInnen beim Verpacken von Regenbogenfahnen in der Geschäftsstelle der homosexuellen Arbeitsgruppe Zürich (HAZ). Foto: HAZ

Im Centro, der Geschäftsstelle der homosexuellen Arbeitsgruppe Zürich (HAZ), knistert und raschelt es. Vierzehn junge Leute sind an diesem Sonntag damit beschäftigt, Briefe mit Regenbogenfahnen in Couverts zu stecken. Kurz vor 14 Uhr ist die letzte von 3500 Fahnen eingepackt, die an diesem Wochenende gefaltet wurden.

Fünf Wochen vor der Abstimmung über die Erweiterung der Antirassismusstrafnorm zum Schutz von Lesben, Schwulen und Bisexuellen ist es im Abstimmungskampf noch relativ ruhig. Die Vorlage sieht vor, mit dem neuen Paragrafen auch Hassreden gegen und die Diskriminierung von Nichtheterosexuellen explizit unter Strafe zu stellen. Im Dezember 2018 hatte das Parlament einen Vorstoss von SP-Nationalrat Mathias Reynard angenommen. Dass es am 9. Februar zur Abstimmung kommt, liegt an einem Referendum aus Kreisen der EDU und der JSVP sowie von weiteren Gruppen. Ihr Argument ist das gleiche, mit dem Rechtskonservative schon die 1995 in Kraft getretene Antirassismusstrafnorm bekämpft hatten: Die Meinungsfreiheit werde eingeschränkt. Dabei unterschlagen sie: Was ein Mensch denkt oder am Stammtisch äussert, fällt nicht unter die Strafnorm. Gemäss Vorlage sollen einzig der öffentliche Aufruf zu Hass und Diskriminierung sowie die systematische Diskriminierung und Verleumdung strafbar werden.

Und die trans Menschen?

Auch in der LGBTIQ-Bewegung gibt es eine Minderheit, die sich dem Komitee «Nein zu diesem Zensurgesetz!» angeschlossen hat – unter anderem, weil sie nicht zu einer «speziell schützenswerten Minderheit» degradiert werden wollen. Eine weitere Kritik aus der Linken beruht auf der Befürchtung, dass mit einer solchen Strafnorm die Verantwortung von der Zivilgesellschaft an den Staat delegiert würde.

Roman Heggli von Pink Cross dagegen betont: «Es geht darum, den Staat für die Bekämpfung und Bestrafung von solchen Hassdelikten in die Verantwortung zu ziehen – und somit darum, auch diese Menschenrechte zu schützen.» Heggli glaubt, dass die Auswirkungen einer solchen Strafnorm über die reine Strafe hinausgingen – als klares Signal der Gesellschaft. «Solange nichtheterosexuelle Menschen in elementaren Lebensbereichen nicht gleichberechtigt sind, brauchen wir einen solchen Schutz.»

Eine im Dezember von der Gesellschaft für Sozialforschung im Auftrag der SRG durchgeführte Umfrage ergab einen Ja-Anteil von knapp siebzig Prozent. Das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Homophobie nach wie vor verbreitet ist. Der Angriff auf ein schwules Paar im Zürcher Niederdorf an Silvester ist eine von mehreren Gewalttaten in den letzten Monaten. Allein zwischen November 2016 und Dezember 2017 hat die Meldestelle der LGBTIQ-Organisationen 95 homo-, bi- oder transfeindliche Vorfälle erfasst – fast zwei gemeldete Fälle pro Woche. Der darauf basierende Bericht zeigt zudem, dass über achtzig Prozent der Fälle nicht der Polizei gemeldet werden, unter anderem, «weil viele glauben, die Tat sei strafrechtlich nicht relevant».

Eine regelmässige Erfassung solcher Vorfälle durch den Bund gibt es nicht; eine entsprechende Motion der BDP-Nationalrätin Rosmarie Quadranti wurde im vergangenen September im Nationalrat knapp angenommen und kommt nun in den Ständerat. In mehreren Kantonen sind ähnliche Vorstösse hängig. Aus dem Bericht der LGBTIQ-Meldestelle lässt sich aber herauslesen: Das Ausmass körperlicher Gewalt ist mit fast einem Drittel der gemeldeten Fälle hoch. Die Daten lassen zudem vermuten, dass trans Menschen noch stärker von Hassdelikten betroffen sind als homosexuelle Menschen.

Alecs Recher vom Transgender Network Switzerland weiss von Mitgliedern, die sich kaum mehr auf die Strasse wagen. Doch ausgerechnet diese Gruppe wird in der erweiterten Strafnorm nicht berücksichtigt, nachdem der Ständerat einen entsprechenden Passus ablehnte. «Die Behauptung der Gegner, bei ‹Geschlechtsidentität› handle es sich um einen schwammigen Begriff, ist haltlos», sagt Recher. «Der Begriff ist international anerkannt, von der Uno bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.» Umso verdankenswerter sei es, dass sich die Organisationen der trans Menschen klar für das neue Gesetz einsetzten, betont Heggli von Pink Cross: «Im Gegenzug setzen wir uns weiter dafür ein, dass auch trans Menschen besser geschützt werden.»

Die Toleranz gegenüber homosexuellen Menschen ist in den letzten Jahrzehnten gestiegen. Doch auch darüber ist man sich im Centro einig: Sich aktiv für den Schutz vor Diskriminierung und für Gleichberechtigung in allen Lebensbereichen einzusetzen, bleibt nötig. «Einfach bloss abstimmen genügt nicht», betont eine junge Frau, «da geht es um mehr als um meine persönlichen Interessen.» Ihre Kollegin fügt hinzu: «Viele denken: Wir sind doch im Jahr 2020, da passiert nicht mehr viel – aber sobald es zum Beispiel ums Heiraten geht, haben vor allem ältere Leute ihre Bedenken. Und unter Alkoholeinfluss tauchen homophobe Aussagen auch bei Leuten auf, von denen man das nie denken würde.» Insgesamt sei es ein wenig paradox: «In unserer Generation ist das Grundklima viel offener geworden, was auch mit dem internationalen Austausch zu tun hat. Umso verstörender sind die Berichte über homophobe Gewalt.» Offenbar wird, je öffentlicher ein gesellschaftlicher Fortschritt gelebt wird, die Gegenreaktion darauf desto sichtbarer.

Gezielte Falschinformationen

Was im Gespräch mit den jungen Leuten auffällt, ist ihr hoher Grad an Selbstreflexion. «Mir ist es ebenso wichtig, Andersdenkenden wie auch Heterosexuellen mit Respekt zu begegnen», sagt eine der Frauen. Gegenseitige Toleranz: Dafür spreche auch die Tatsache, dass der Zusammenhalt zwischen den verschiedenen Gruppen in der bunten LGBTIQ-Gesellschaft stärker geworden sei, «immer mehr auch mit solidarischen Heteros». Es gehe darum, einzelne Menschen und ihre persönlichen sexuellen Orientierungen und Geschlechtsidentitäten nicht mehr in Boxen zu stellen: «Letztlich geht es um grundlegende Menschenrechte. Dafür braucht es keine Label.»

Die Wirkungskraft gezielter Falschinformationen von rechtskonservativer Seite ist jedoch nicht zu unterschätzen. Umso wichtiger sei es, mit den Leuten zu reden und ihnen klarzumachen, um was es wirklich gehe: «Es gibt viele, die klar für gleiche Rechte für alle sind, die Vorlage aber möglicherweise trotzdem ablehnen, weil sie durch die falsche Auslegung der Gegner davon ausgehen, dass die Meinungsfreiheit gefährdet sei.»

Dass es sich derzeit um eine Übergangsphase hin zu einer wirklich offenen Gesellschaft handelt, darin sind sich alle einig. «Es wäre schön, wenn es irgendwann nicht mehr nötig wäre, ein Coming-out machen zu müssen», sagt eine der jungen Frauen. Doch fürs Erste gehe es jetzt vor allem darum: «Dass man sich geschützt weiss.»